Montag, 25. April 2011

Berlin - Moskau

Freitag, 01.10., 15:07h (MEZ)

Der Puls ist schon etwas höher als normal. Falls man das so nennen kann, riecht es hier russisch. Die Angestellten sprechen nur russisch, die Hinweistafeln sind kyrillisch. Schon in Russland? Nein, Berlin, Bahnhof Zoo, im Nachtzug nach Moskau. Schlafwagenabteil mit ausklappbarem Waschbecken. Von der russischen Hauptstadt trennen uns noch 38 Stunden, zwei Zeitzonen und drei Landesgrenzen. Los geht’s.







Freitag, 01.01., 17:20h (MEZ)

Wie schaffe ich einen Tagebuch-Eintrag ohne die zahlreichen „Oder“-Wortspiele, mit denen wir uns gerade die Wartezeit in Frankfurt überbrückt haben? Schwierig. Ich könnte schreiben, dass die Oder gerade ganz schön viel Hochwasser hat. Kein Wunder nach dem Wetter in der vergangenen Woche. Oder?






Freitag, 01.01., 17:58h (MEZ)

Jedes Jahr werden 25 Hektar Fläche für Einmalstäbchen gerodet, sagt der Reiseführer. Mit dieser einfachen Zahl versuchen wir gerade, uns die Dimension unserer beiden Urlaubsländer klar zu machen, die Größe Russlands und die Einwohnerzahl Chinas: 25 Hektar sind etwa 25 große Fußballfelder. 25 Fußballfelder komplett voll mit Bäumen, das ist schon eine Menge Holz – im wahrsten Sinne des Wortes. Aus jedem einzelnen Baum lassen sich verdammt viele kleine Holzstäbchen machen. Also müssen 1,3 Mrd. Menschen, die mit Einmalstäbchen essen, verdammt viel sein. Krass, gibt es viele Chinesen.
Russland ist etwa 17 Mio. km² groß und damit fast doppelt so groß wie Europa (natürlich ist der Vergleich Quatsch, weil fast ein Drittel Russlands in Europa liegt…) oder 6.650 Mal so groß wie das Saarland (mit dem man ja Flächenangaben sonst immer vergleicht). Würde ganz Russland voll stehen mit Bäumen, aus denen die 1,3 Mrd. Chinesen Einmalstäbchen herstellen würden, dann würde der Holzvorrat für 68 Millionen Jahre reichen. Krass, ist Russland groß.


Freitag, 01.01., 19:00h (MEZ)

Ich bin begeistert von Dirks Kreativität. Er sitzt gerade neben mir und zeichnet alle Lebensmittel, die wir vor der Abfahrt gekauft haben, in seinen Notizblock. Alles, was wir essen und trinken, streicht er durch, damit wir immer wissen, was noch da ist. Coole Idee. Wie er in diesem wackelnden Zug so schön zeichnen und – mit kyrillischen Buchstaben! – schreiben kann ist mir sowieso ein Rätsel. Ich werde ihn weiter von der Seite beobachten und bewundern.





Freitag, 01.10., 21:38h (MEZ)

Die Betten sind ausgeklappt, das Nachtlicht angeknipst. Der erste Tag nähert sich dem Ende, der Zug nähert sich Warschau. Irgendwann heute Nacht werden uns weißrussische Zöllner aus dem Schlaf reißen und uns Formulare in die Hand und Maschinengewehre unter die Nase drücken. Wir haben aber nichts zu befürchten, denn wir haben uns hartnäckig geweigert, für den Schlafwagenschaffner Schuhe zu schmuggeln. Nach zwei Wörterbüchern und der Tüte voller neuer Schuhe war klar, was mit „darf ich Sie bitten, über die Grenz zwei oder drei Schuh“ gemeint war. Je näher wir Russland kommen, desto skurriler wird alles. Trotz einiger schlechter Erfahrungen bei vergangenen Besuchen freue ich mich auf ein Wiedersehen mit dem größten Land der Erde.




Samstag, 02.10., 9:32h (MEZ+1)

Gelbe und rote Bäume in Weißrussland: von wegen, es gäbe in kontinentalen Klimaten keine Übergangsjahreszeiten. Wenn das da draußen kein Herbst ist, was dann?!
Die Grenzzeremonien zwischen Polen und Weißrussland heute Nacht haben etwa drei Stunden gedauert, spektakulärer Höhepunkt war natürlich die Umspurungshalle: angeblich, damit es nicht von Feinden mit der Eisenbahn überrollt werden kann, hat sich das russische Zarenreich seinerzeit für eine breitere Spurweite entschieden, als die in Westeuropa übliche „Normalspur“ von 1.435 mm. Das führt bis heute zu aufwändigen Umspurungsaktionen im Personen- wie im Güterverkehr. Unser Zug wurde – aufgeteilt auf mehrere nebeneinander stehende Zugteile – in eine Art große Lagerhalle gebracht, dort wurde dann Waggon für Waggon angehoben, die alten Drehgestelle gelöst und herausgerollt und neue, breitere Drehgestelle wurden in die Halle gerollt und in den Waggons verankert. Klingt interessant? Ist es auch.


Samstag, 02.10., 10:43h (MEZ+1)

Subsistenzbauern neben Großbetrieb mit Riesenäckern; Uralt-Lkw neben neuem Audi; kleine Holzhäuser mit rauchendem Schornstein neben markanten Industriebetrieben. Weißrussland scheint ein Land der Gegensätze zu sein.


Samstag, 02.10., 13:15h (MEZ+1)

Minsk war (nach Berlin und Warschau) schon die dritte Hauptstadt auf unserer Reise. Hat natürlich nur – während Ein- und Ausfahrt und 20 Minuten am Hauptbahnhof – für einen ersten Eindruck gereicht. Von den Gebäuden her eine kleine Schwester Moskaus, überraschend moderner (bzw. modernisierter) Fuhrpark des öffentlichen Nahverkehrs, sehr viele und große Industriebrachen, überraschend hässliche Neubauten („wahrscheinlich kommt Architektur hier auch zehn Jahre später an“), keine strukturierte Stadtentwicklung erkennbar. Aber alles in allem wirkt die Stadt durchaus sympathisch und einladend. Der Unterschied zwischen dem großen Minsk und dem ländlichen Weißrussland, durch das wir jetzt wieder fahren, ist auf jeden Fall beeindruckend. Neubauten auf dem Land sind in der Regel nicht fertiggestellte Bauruinen, während ein Großteil der Landbevölkerung scheinbar in alten Holzhäusern wohnt. Wir haben noch nicht herausgefunden, warum die Einheimischen so gerne mit großen Plastiktüten durch den Wald laufen. Herausgefunden haben wir indes, dass die herbstlich-bunten Mischwälder hier in Weißrussland viel schöner sind als die Kiefern-Monotonie gestern Nachmittag in Brandenburg.





Samstag, 02.10., 20:08h (MEZ+2)

Ganz offensichtlich unterscheiden sich Russland und Weißrussland nur minimal, uns ist nämlich gar nicht aufgefallen, dass wir die Grenze passiert haben. Bei der Einfahrt in den Bahnhof von Smolensk haben wir es dann gemerkt, aber auch nur, weil wir aus der Landkarte wussten, dass Smolensk in Russland liegt. Die Dörfer, Städte und Wälder sehen sich in beiden Ländern sehr ähnlich, die Bahnhofsgebäude – allesamt gepflegt und sauber! – unterscheiden sich in der Art des Türkistones, sehen aber sonst völlig identisch aus. Im letzten Bahnhof in Weißrussland – Orscha – haben wir in der Bahnhofshalle in Form eines großen Wandgemäldes erstmals Bekanntschaft mit Lenin gemacht. Er wird uns auf unserer weiteren Reise noch häufiger begegnen…





Mittlerweile ist es wieder dunkel, die Birkenwälder sind einem Meer von Hochhäusern gewichen. Das erste Einkaufszentrum mit Glitzerfassade ist gerade am Fenster vorbeigezogen, jetzt sind wieder Wohntürme vor dem Fenster. Schade, dass wir bald aussteigen müssen. War eine sehr komfortable, angenehme Fahrt von Berlin hierher. Jetzt heißt es Abschied nehmen von unserem schönen Abteil mit dem ausklappbaren Waschbecken, von den humorvollen Zugbegleitern Alexander und Anja, vom beständigen Rumpeln. Das nächste Abenteuer wartet bereits. Wir sind in Moskau!

Moskau

Sonntag, 03.10., 12:03h (MEZ+2)

Ich habe keine Ahnung, warum ich Moskau bei meinen bisherigen drei Besuchen nie richtig leiden konnte. Wo sind sie hin, all die muffigen Hackfressen, die stinkenden Alkoholiker, die skurrilen Gestalten, die tollkühnen Raser? Sogar die überbreiten Straßen sind recht leer. Sonntags scheint dieser Zehn-Millionen-Moloch recht entspannt zu sein. Seine Bewohner auch. Seit gestern Abend sind uns schon mehr freundliche Menschen begegnet, als bei meinen vorherigen drei Moskau-Besuchen zusammen. Ob Hostelmanager, Kioskverkäuferin oder Busfahrer: alle haben ein Lächeln für uns parat und bemühen sich um Freundlichkeit. Bin ich aus Moskau so gar nicht gewohnt (aus Berlin auch nicht…).




Während ich diese erleichterten Worte aufs Papier kritzele, sitzen wir auf einem Schiff und schippern über die Moskwa. Draußen ist es kalt und bewölkt, aber trotzdem schön. Den Ausblick von den Sperlingsbergen hinunter auf die Stadt haben wir vorhin schon genossen, jetzt also die Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt mal aus der Wasserperspektive.






Sonntag, 03.10., 22:18h (MEZ+2)

Beeindruckend, wie weit wir gefühlt (und ja auch reell) inzwischen entfernt sind von daheim. Wollte gerade einer Freundin „liebe Grüße in die Heimat“ schreiben. Die Freundin wohnt allerdings in Hannover, das ist nicht meine Heimat. Nach 2.000 Kilometern ist jetzt aber anscheinend Deutschland meine Heimat und nicht mehr Schöllkrippen (nachträgliche Anmerkung: Deutschland scheint wirklich weit weg zu sein, erst am Tag danach ist uns aufgefallen, dass ja heute Nationalfeiertag war).







Montag, 04.10., 13:25h (MEZ+2)

Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt. Der Großraum-Liegewagen mit den kleinen Trennwänden zwischen den einzelnen Bettgruppen wird in den nächsten vier Tagen unser Zuhause sein.
Noch sind wir aber in Moskau, wo wir in den vergangenen zwei Tagen sehr viel gesehen haben. Kalt war es und bewölkt, aber damit war ja zu rechnen. Zu Fuß, mit der Metro (die „Paläste des Volkes“, U-Bahnhöfe mit Mosaikdecken und sonstigem Schmuck, sind wirklich wunderschön!), Tram und O-Bus (beides meist alt, urig und langsam) sowie dem erwähnten Schiff auf der Moskwa haben wir die verschiedenen Ecken der Innenstadt abgegrast. Den überlaufenen Roten Platz, die fast schon dörflichen Viertel südlich der Moskwa, die faszinierend große Lomonossow-Uni (das höchste geographische Institut der Welt liegt dort im 28. Stock), den lebendigen Arbat, die laute Twerskaja-Straße, die skurrile Moskwa-City (wo innerhalb der letzten Jahre eine bisher recht leb- und infrastrukturlose Skyline aus dem Boden gestampft wurde), Markthalle, Shopping Mall, orthodoxe Klöster: es gibt schon viel zu sehen in dieser Riesenstadt.









Natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt, und Moskau glänzt ja nicht mal überall. Unfreundliche Menschen sind uns auch dieses Mal begegnet, und man hat viel zu oft den Eindruck, dass die Stadt leider für Autos und nicht für Menschen gebaut wurde. Der Typ mit der Corvette, der gestern seinen Kumpel angefahren hat, wollte aber bestimmt nur spielen… Zitat meines Mitreisenden D. H. neben einem völlig überlaufenen Kloster: „wenn die Menschen hier so gläubig sind, warum gibt es dann so viele Assis?“.




Ich hab auch keine Ahnung, warum der Mann vorhin auf dem Bahnsteig eine Motorsäge verkaufen wollte, so viele Bäume gibt es in der Stadt gar nicht. Aber Müll.
Gewöhnungsbedürftig sind auch die russischen Toiletten, wo man das benutzte Klopapier in einen Eimer schmeißt und nicht mit wegspült – dennoch ist es leicht, die Klospülung zu überfordern, was auch die manchmal bis zum Rand gefüllten Schüsseln erklärt...
Erlebnisse mit seltsamen Menschen beiden Geschlechts während des Toilettenbesuchs kann Dirk aufweisen, ich wurde von den Schattenseiten der russischen Hauptstadt diesmal wirklich verschont. Hoffentlich ein gutes Omen für den weiteren Reiseverlauf.
Napoleon konnte sich in Moskau nur wenige Tage behaupten, Hitler kam nur bis zum (heutigen) Ikea-Markt am westlichen Stadtrand. Luschkow ist letzte Woche gescheitert. Moskau ist halt einfach keine Stadt, die man leicht für sich erobern kann…

Moskau - Irkutsk

Montag, 04.10., 16:46h (MEZ+2)

„Der Weltraum, unendliche Weiten“. Ok, Weltraum ist das hier keiner, aber die Weiten scheinen unendlich. Moskau liegt gerade einmal 200 km hinter uns, aber die Welt vor dem Fenster ist bereits eine völlig andere. Die großen Wohnhochhäuser Moskaus und die zahlreichen Siedlungen des unmittelbaren Umlandes sind einer weiten und ebenen Landschaft gewichen, in der es außer Land- und Forstwirtschaft anscheinend nicht so viel zu tun gibt. Abwechslungsreich ist es schon, man verpasst jetzt aber auch nicht viel, wenn man mal fünf Kilometer lang nicht aus dem Fenster schaut. Die beiden Jungs aus dem Kaukasus, die heute Nacht über uns schlafen werden, sind echt nett. So kommt es, dass wir um drei Uhr nachmittags schon das zweite Bier in der Hand hatten. Unglaublich, welch spannende Unterhaltungen man mit drei Worten Russisch haben kann, wenn man das richtige Wörterbuch und den eloquenten Dirk dabei hat. Super, dass er mir diese Reise vorgeschlagen hat. Super, dass wir heute hier sind. Bahn fahren war schon immer mein Ding. Transsib ist es auch.







Montag, 04.10., 19:48h (MEZ+2)

Den Aufenthalt in Danilow werde ich so schnell nicht mehr vergessen. Dass an den Unterwegsbahnhöfen der Transsib sogenannte Babuschkas (wörtlich übersetzt: Omas) Lebensmittel – meist aus dem eigenen Garten oder Herd – anbieten, war uns vorher bekannt. Dass es so abgefahren ist, hat uns dann doch überrascht (Zitat Dirk: „krass Alter, gib mir mal die Kamera!“). Bahnsteige gibt es keine, man muss also recht tief springen, um zu den Verkäuferinnen zu gelangen. Die Verkäuferinnen – nur äußerst selten sind es Männer – haben indes den anspruchsvolleren Job: Sie müssen unter den Waggons hindurchklettern, um auf die Zugseite zu gelangen, an der die Passagiere aussteigen. Aufgabe der Zugbegleiter – auch im Liegewagen gibt es in jedem Waggon mindestens einen – ist es, das Leben der Käufer und Verkäufer zu schützen, wenn mal wieder eine große Lok vorbeirauscht oder sich der eigene Zug beim Lokwechsel in Bewegung setzt (die Loks werden hier anscheinend ständig gewechselt, zumindest an den Grenzen der Bahnverwaltungen).
Nach in diesem Fall 23 Minuten, wenn die Lebensmittelvorräte aufgefüllt und die Stufen hinauf in den Waggon erklommen sind, wirft der Schaffner mit der großen Taschenlampe (in Russland ist anscheinend alles größer als bei uns, selbst Taschenlampen) noch einmal einen letzten Blick unter den Waggon, um zu überprüfen, ob da auch keine Babuschka gestrandet ist. Dann kann die Reise in die russische Nacht weitergehen.




Dienstag, 05.10., 11:46h (MEZ+3)

Es waren nur ein paar Flocken, aber es war eindeutig Schnee, der da heute Morgen in Balesino auf dem Bahnsteig gelandet ist. In der kalten, feuchten Luft hing der sichtbare Atem von hungrigen Fahrgästen und fleißigen Babuschkas. Die Nachfrage nach Frühstück wird durch das Angebot der Babuschkas mehr als nur erfüllt. Einen schöneren Ort für ein Marktgleichgewicht kann man sich gar nicht vorstellen.
Die erste Nacht in der Transsibirischen Eisenbahn war erstaunlich bequem und störungsfrei. Matratze auf der Sitzbank ausrollen, Schlafsack drüber, fertig ist das Nachtquartier. Ausgestreckt schlafen kann man bei meiner Körpergröße leider nicht, da würden die Füße zu weit in den Gang reichen. Geht aber auch ein wenig zusammengerollt.
Von frühester Kindheit an wird man ja von seinen Eltern in den Schlaf gewiegt, meiner Meinung nach der Grund dafür, warum man im schaukelnden Zug so schnell müde wird und einschläft. Wacht man zwischendurch doch einmal auf, dann meist, wenn der Zug in einem Bahnhof steht, also nicht schaukelt.
An den schaukelnden offenen Liegewagen haben wir uns schon ganz gut gewöhnt. Der Gang zum Samowar am Wagenende, um heißes Wasser für Tee und Suppe zu zapfen, ist schon Routine. Miserabel ist selbstverständlich der Zustand der Toilette, aber daran muss man sich in Russland einfach gewöhnen…




Dienstag, 05.10., 12:34h (MEZ+3)

Vor dem Fenster nichts spektakulär Neues: bei den Wäldern dominieren Birken, bei den Dörfern dominieren halbverfallene Holzhäuser, bei den Städten dominieren stinkende Industriebetriebe und interessante Lokdepots. Das alles in einem relativ regelmäßigen Abstand, gegliedert durch große, meist in Süd-Nord-Richtung fließende Flüsse. Gestern Abend haben wir zum Beispiel die Wolga, den größten Fluss Europas (aber nur der fünftgrößte Fluss Russlands!) überquert. Klingt alles in allem langweiliger als es ist, das unbekannte, völlig anders als in Deutschland aussehende Landschaftsbild lockt unsere Blicke immer wieder aus dem Fenster. Die Einheimischen – also der Rest des Waggons – wundern sich natürlich, warum wir ständig fotografieren und filmen wollen. Die Leute aus den anderen Waggons haben sich sicher auch schon lustig gemacht über die beiden Westeuropäer, die immer mit der Kamera auf dem Bahnsteig stehen. Aber wir haben es ja nicht anders gewollt, sonst wären wir mit einem schnelleren Expresszug gefahren, mit dem dann vermutlich auch noch andere Rucksacktouristen unterwegs gewesen wären. Dazu muss man wissen: je kleiner die Zugnummer, desto schneller und komfortabler und somit bei Touristen beliebter sind die Züge in Russland. Die durchgehenden Züge von Moskau nach Beijing haben die Nummern 4 und 6. Wir fahren gerade mit Zug 350…






Dienstag, 05.10., 14:12h (MEZ+3)

Mögen die kleinen Holzhaussiedlungen noch so verträumt und idyllisch aussehen, für die Bewohner sind die schlecht beheizbaren Häuser natürlich alles andere als bequem. Die Menschen scheinen ausschließlich von Subsistenzwirtschaft, aufgrund des unfruchtbaren Bodens also in erster Linie von Viehwirtschaft zu leben. Das erklärt die eine Kuh oder die zehn Ziegen, die oft am Ortsrand stehen. Die einzige Hoffnung der Menschen hier ist vermutlich der Zug nach Moskau, der mehrmals täglich an ihrem Dorf vorbeirauscht. So lange, bis sie sich selber ein Ticket nach Moskau leisten können. Eine Einzelfahrt.




Dienstag, 05.10., 15:42h (MEZ+3)

Man muss sich immer wieder vor Augen führen, dass die Transsibirische Eisenbahn noch heute die wichtigste Entwicklungs- und Siedlungsachse Sibiriens ist (das zeigt zum Beispiel in Blick in den Diercke-Weltatlas oder auf das wunderbare Poster „die Welt bei Nacht“). Hier findet man die größten Städte, die größte Besiedlungsdichte und die beeindruckendsten Brücken. Würde man 200 Kilometer weiter nördlich parallel zur Transsib fahren, wäre das Bild von Russland vermutlich ein noch viel extremeres. Große Orte oder gar Millionenstädte würde man vergeblich suchen; statt der Birkenwälder, die es nur am südlichen Rand der Taiga gibt (also da, wo die Transsib fährt), würde man auf dunkle Nadelwälder treffen. Eine solche Reise wäre aber nicht nur langweilig, sondern vermutlich auch unmöglich: asphaltierte Straßen oder Eisenbahnstecken würde man vergeblich suchen, Brücken über die großen Flüsse auch. Ist aber auch gar nicht nötig, wir sind sowieso bereits auf der Transsib überrascht von der unglaublichen russischen Weite.


Dienstag, 05.10., 17:36h (MEZ+4)

Die politisch konstruierte Grenze zwischen Europa und Asien führt ja bekanntlich unter anderem durch das Uralgebirge (später führt sie etwas nördlich des Kaukasus-Hauptkammes und nicht direkt auf dem Kamm entlang, damit dem französischen Wunsch entsprechend der Mont Blanc der höchste Berg Europas ist und nicht der deutlich höhere Elbrus, aber ist eine andere Geschichte). Wer jetzt erwartet, dass man mit der Transsib ein richtiges Gebirge überquert, wird bitter enttäuscht. Im Laufe der Jahrmillionen ist der Ural (zumindest im zentralen Bereich, in dem er von der Transsib gequert wird) zu einer unauffälligen Ansammlung sanft gerundeter Hügel verkümmert (bzw. erodiert). Wir wurden von den Reiseführern davor gewarnt, deshalb sind wir nicht enttäuscht, sondern eher positiv überrascht. Seit Perm ist die Strecke nämlich mal wieder etwas spannender und abwechslungsreicher (vorher konnten wir endlich mal lesen und dösen). Perm selbst, das „Tor zu Sibirien“, hat uns schon sehr überrascht: nach stundenlanger Quasiwildnis plötzlich wieder eine russische Millionenstadt mit allem, was dazugehört: Plattenbauten, Stadtautobahn und Lenin-Denkmal.






Hinter Perm folgte eine großflächig verwüstete Industrie(brachen)landschaft, die uns (nicht zuletzt, weil mich die Landschaft sehr an meine Bahnfahrt von New York nach Toronto vor zwei Jahren erinnerte) zur spannenden Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Weltmächte des 20. Jahrhunderts gebracht hat (mangelnde Sensibilität im Umgang mit natürlichen Ressourcen ist ja leider auch ein Wahrzeichen der USA). Beide Länder sind sich in vielen Dingen ähnlicher als ihnen lieb ist (Linksradikale sehen ja auch oft genauso aus wie Rechtsradikale…). Der größte Unterschied ist vielleicht wirklich die systemisch bedingte unterschiedliche Staatsauffassung: während der Russe noch heute sehnsüchtig darauf wartet, dass endlich der Staat kommt und seinen Garten schön macht und sich in der Wartezeit darüber aufregt, dass sich der Staat nie um ihn und seinen Garten kümmert, nimmt der Amerikaner einfach einen Spaten in die Hand und macht seinen Garten schön, schließlich ist er sich selbst der nächste. Folglich sehen Vorgärten in Amerika deutlich gepflegter aus als in Russland.
Man könnte jetzt darüber philosophieren, ob man von den gepflegten Vorgärten auf das ganze Land schließen kann und ob die Grenze zwischen diesen beiden Mentalitäten nicht auch mitten durch Deutschland führt. Aber ich will jetzt keine politische Diskussion lostreten, ich will einfach nur bei Piroggen und Tee die vorbeiziehende, recht interessante Ural-Landschaft genießen.






Mittwoch, 06.10., 9:47h (MEZ+4)

Unsere Mitreisenden wechseln ständig, wir bleiben einfach immer im Zug. Natürlich ist die Transsibirische Eisenbahn die längste Bahnstrecke der Welt und die wichtigste Verkehrsverbindung Sibiriens, aber das heißt nicht, dass alle Passagiere mehrere tausend Kilometer lang an Bord bleiben. Der eine fährt zum Verwandtschaftsbesuch nach Perm, der nächste zum Auswärtsspiel seines Fußballvereins von Jekaterinburg nach Omsk. Wenn wir erzählen, dass wir bis nach Irkutsk und dann weiter nach Beijing fahren wollen, ernten wir nur Kopfschütteln und abfällige Kommentare. Nur wenige Gesichter, die mir hier im Gang begegnen, sind schon seit Moskau im Zug.
Seit Moskau hat der Zug bereits mehr als 2.400 Kilometer zurückgelegt. Wir fahren durch Westsibirien. Die Temperaturen haben sich dem Gefrierpunkt noch weiter angenähert, die Bäume haben ihre Blätter zum Teil schon verloren. Entweder ist der Herbst hier kürzer als westlich des Urals, oder er hat früher angefangen. Auf jeden Fall scheint er bald vorbei zu sein. Die Birken tun sich sichtlich schwer damit, ihre Blätter noch ein wenig zu behalten, die Wolken am Himmel riechen förmlich schon nach Schnee.






Mittwoch, 06.10., 10:04h (MEZ+4)

Mitten in der westsibirischen Einsamkeit liegt der Ort Karasulskaya. Der Zug hat dort vorhin so lange gehalten, dass ich einen kleinen Morgenspaziergang ins „Ortszentrum“ machen konnte – im Übrigen war ich der einzige Fahrgast, der das kleine Bahnhofsgelände verlassen hat, ein weiteres Indiz für meine These, dass nicht viele andere Touristen an Bord sein können.
Karasulskaya besteht aus einer asphaltierten Durchgangsstraße – in den 27 Minuten Aufenthaltszeit fuhr genau ein Auto, ein alter schwarzer Lada – und mehreren nicht asphaltierten Nebenstraßen, die zu den einzelnen Holzhäusern mit ihren eingezäunten Vorgärten führen. Auf den Nebenstraßen drei, vier rüstige Rentner, die irgendwelche Gegenstände irgendwohin schleppen. Sonst nichts. Erinnert mich ein bisschen an die Walachei in Südrumänien. Woran man erkennen soll, dass man in Asien ist, ist mir ein Rätsel. Habe immer noch so meine Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Ural-Grenze…







Mittwoch, 06.10., 15:35h (MEZ+5)

Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit auf dieser Fahrt vergeht. Gefühlt gerade aufgestanden, ist es in vier Stunden schon wieder dunkel. Eine Stunde Fahrzeit zwischen zwei Stationen kommen mir meist vor wie zehn Minuten. So kommt es, das wir jetzt schon Omsk verlassen, obwohl es gerade eben noch drei Stunden waren bis Omsk. Seltsam, wie sehr mein Zeitgefühl verrückt spiel auf dieser Reise. Ob das (meine Theorie) an den ständigen Zeitumstellungen (wir sind mittlerweile schon fünf Zeitzonen vor Berlin) liegt? Oder ob es (Dirks Theorie) am dauerhaft niedrigen Ruhepuls liegt? Keine Ahnung.
Omsk, eine hässliche Millionenstadt, war objektiv betrachtet das Highlight des Tages, der uns überwiegend durch westsibirische Steppe führt. Wie es sich anfühlen muss, in einem dieser gottverlassenen Dörfer hier in der Steppe zu wohnen? Warum so viele Birken kaputt sind (wie Brandfolgen sieht es nicht aus, eher wie Insektenbefall)? Warum wackelt der Waggon immer dann so extrem, wenn wir Tee eingießen? Alles Fragen, die der heutige Tag nicht beantworten wird. Aber wenigstens hat er sie aufgeworfen.








Mittwoch, 06.10., 20:40h (MEZ+5)

Ist das jetzt der zweite oder dritte Tag in diesem Zug? Ist heute Donnerstag oder Freitag? Oder doch Montag? Ach, ist doch egal.


Donnerstag, 07.10., 10:15h (MEZ+6)

Eigentlich hatten wir erst in der Mongolei mit ihm gerechnet, jetzt hat er uns doch schon in Mittelsibirien mit seinem Besuch überrascht: der Schnee. Es war damit zu rechnen. Seit Tagen wird es jeden Morgen ein bisschen kälter, und erste Schneeflocken haben wir ja am ersten Abend nach Moskau schon gespürt. Nun schneit es also richtig, und der Schnee bleibt zum Teil auch liegen. In den Wäldern um uns herum ist anscheinend schon der russische Winter ausgebrochen, am 7. Oktober.
Russland, ein Wintermärchen? Naja, für Dirk gerade nicht, der konnte sich noch immer nicht die Zähne putzen, weil sich eine „fette Sau“ an ihm vorbeigedrängelt und ihm den Zugang zur Toilette verwehrt hat. Andere Länder, andere Sitten.



Donnerstag, 07.10, 15:10h (MEZ+6)

Es ist wirklich auffällig, dass die Russen anscheinend keine Bücher lesen. Sie stricken, reden, gucken stundenlang in die Luft (nicht aus dem Fenster!), aber sie lesen nicht. Wenn doch mal einer liest, dann eine Illustrierte. Das war in der Moskauer Metro auch schon so, aber in einem Fernzug, der 5.000 Kilometer unterwegs ist, ist es natürlich auffälliger, dass außer uns irgendwie niemand ein Buch dabei hat. Muss es nicht unglaublich langweilig sein, stundenlang einfach so in die Luft zu gucken? Ist das Leben nicht viel zu kurz, um damit seine Zeit zu verschwenden? Heißt es nicht immer, dass Lesen bildet? In Russland anscheinend nicht. Der Tipp des russischen Fußballfans gestern Abend, „ihr müsst hören, nicht lesen“ war glaube ich ernst gemeint. Er ist der Meinung, dass man viel mehr lernt, wenn man dem zuhört, was die Leute zu sagen haben, als wenn man irgendwelche blöden Bücher liest. Auch ein interessanter Ansatz. Aber erstens verstehe ich die Menschen hier sowieso nicht, und zweitens hatte er in Bezug auf Bildung jetzt auch nicht gerade eine Vorbildfunktion. Ich werde also weiter mein Buch lesen (im Übrigen das sehr interessante Buch „Russland – Das wahre Gesicht einer Weltmacht“ von Thomas Roth).


Donnerstag, 07.10., 16:12h (MEZ+6)

Wir haben lange überlegt und diskutiert, in welcher Abteilart wir auf der Transsib reisen wollen – Zweibettabteil im Schlafwagen, Vierbettabteil im Schlafwagen, oder doch im offenen Liegewagen („platzkartny“). Gegen das 2er-Abteil sprach vor allem der Preis, gegen den Liegewagen die Befürchtung, dass man stets um sein Hab und Gut besorgt sein muss. Diese Sorge erwies sich als größtenteils unbegründet – die unteren Liegen kann man aufklappen und sein Gepäck darin verstauen, sodass wir also auf unserem Hab und Gut schlafen. Wir haben die Wahl des Liegewagens jedenfalls nicht bereut. Die interessanten „Gespräche“ mit den anderen Fahrgästen (Fremdsprachenkenntnisse besitzt hier wirklich niemand, unsere Russischkenntnisse sind bekanntlich rudimentär) wären uns im Schlafwagen entgangen, und die machen ja nicht zuletzt den Reiz einer Reise auf der Transsibirischen Eisenbahn aus.
Der erste wirklich unangenehme „Mitbewohner“ liegt gerade mitsamt seiner Tattoos und Narben und seiner CCCP-Boxershorts über Dirk und schläft. Solange er schläft, kann er mich nicht rumkommandieren und von Dirk nicht verlangen, dass er ihm sein Handy geben soll, damit er damit eine SMS schreiben kann. Beruhigend.
Läuft man einmal durch den kompletten Zug – das sollte man auf jeder Fahrt mit der Transsib mindestens einmal machen, allein die seltsamen Waggonübergänge und die Giftspritze von Speisewagen-Mitarbeiterin lohnen diesen Spaziergang! – so stellt man fest, dass Typen wie der über Dirk in manch anderem Waggon eher die Regel als die Ausnahme sind. In manchen Waggons – in unserem Zug vor allem die hintersten zwei – hat man das Gefühl, durch eine psychatrische Anstalt oder einen Hochsicherheitstrakt zu laufen. Warum sind wir der Meinung, dass so viele Russen aussehen wie Killer? Ist es die Prägung durch das westliche Fernsehen (Stichwort James Bond), wo die Bösewichte überdurchschnittlich oft slawische Gesichtszüge tragen? Oder muss man in einer Gesellschaft wie Russland, wo eine unabhängige Justiz genauso wenig zu erwarten ist wie ein funktionierendes Sozialsystem, einfach robuster sein, um sich notfalls im wahrsten Sinne des Wortes durchschlagen zu können? Keine Ahnung. Der weiche Kern hinter der harten Schale ist aber oft vorhanden, man darf nur nicht aufgeben. Der Schaffnerin im Nachbarwaggon konnten wir zum Beispiel beim dritten Versuch ein kurzes Lächeln abringen.


Donnerstag, 07.10, 16:43h (MEZ+6)

Seit der Abfahrt in Berlin mussten wir jetzt schon sechsmal die Uhr um eine Stunde nach vorne drehen. Wären wir in die andere Richtung gefahren, wären wir jetzt in New York. Stattdessen schaukeln wir mal wieder durch einen mittelsibirischen Birkenwald. Auf den ersten Blick sah es gestern auch schon so aus. Und vorgestern auch. Deutlich verändert hat sich nur die Länge des Schals meiner strickenden Nachbarin. Doch ein zweiter Blick auf die Birkenwälder lohnt sich: vorgestern haben Sie noch herbstlich-gelb geleuchtet, heute haben sie schon fast keine Blätter mehr. Während also westlich des Urals noch Herbst ist, beginnt in Mittelsibirien schon der Winter – wie am beschriebenen Schneefall heute Vormittag unschwer zu erkennen war.
Es lohnt sich auch, die entgegenkommenden Güterzüge näher zu betrachten. Auf den ersten Blick sehen sie alle gleich aus, grüne Loks mit rotem Stern und vielen Waggons. Auf den zweiten Blick hat sich die Ladung geändert: im Ural wurde noch überwiegend Kohle befördert, während hier jetzt vor allem Holz transportiert wird. Was in den Container- und Stückgutwaggons befördert wird, weiß man natürlich nicht. Auffällig ist auf jeden Fall, wie viele Güterzüge uns begegnen (und mit ihrem Lärm unsere Gespräche unterbrochen, auffallend häufig vor allem dann, wenn wir uns gerade regierungskritisch äußern…). Ein Reiseführer spricht sogar davon, dass die Transsib die am dichtesten befahrene Güterzugtrasse der Welt ist. Das glaube ich zwar nicht, aber die Häufung von Güterzügen ist schon beeindruckend. Kohle aus Sibirien für Moskauer Heizkraftwerke, Autos aus Japan für den russischen Markt, Lebensmittel aus China für den westeuropäischen Markt: alles, was auf dem Landweg von Asien nach Europa und umgekehrt befördert wird, wird über die Transsib befördert. Folglich ist die Transsibirische Eisenbahn in den letzten Jahren mit großem finanziellem Aufwand ausgebaut worden und wird – wie die zahlreichen Bauarbeiter auf und an der Strecke beweisen – noch immer ausgebaut. Alte Brücken wurden durch neue, Holzschwellen durch Betonschwellen ersetzt. In den zahlreichen Reisereportagen über die Transsib, die überwiegend in den 1990er Jahren gedreht wurden, wird oft ein etwas (zu) nostalgischer Eindruck vermittelt. Die Strecke Moskau – Wladiwostok ist heute durchgehend zweigleisig und elektrifiziert. Wenn man aus dem letzten Waggon auf die Strecke schaut, sieht es meist auch nicht anders aus als zwischen Berlin und Cottbus. Holzgeschnitzte Speisewagen-Interieurs mit Porzellan-Services gibt es auch nur in den Touristen-Sonderzügen (später sollen wir noch feststellen, dass es das in der Mongolei auch noch im Regelzug gibt). Trotzdem: auch in den Regelzügen ist die Transsib ein ganz besonderes Bahnerlebnis. Sei es die Verladung der Kohle für die Waggonheizung an den Unterwegshalten; der Samowar, aus dem man sich regelmäßig heißes Wasser zapfen kann (während es auf der Toilette nicht einmal kaltes Wasser und meist auch kein Klopapier gibt) oder aber die eigenwilligen russischen Schaffner (und Passagiere). Ist schon was ganz besonderes, auf der Transsib unterwegs zu sein. War ne gute Idee von meinem Opa, dass er das zu seinem 80. Geburtstag mit mir zusammen machen wollte. Schade, dass er nicht so alt geworden ist.






Donnerstag, 07.10, 20:57h (MEZ+6)

Während wir noch darüber diskutieren, ob der östliche Teil der Transsibirischen Eisenbahn schon farbig ist oder noch schwarz-weiß, ist draußen schon wieder dunkle Nacht, immer wieder kurz aufgehellt durch die Lichter der entgegenkommenden Güterzüge. Nasse Schneeflocken laufen über die Scheibe. Zeit, einen weiteren Tag im Zug Revue passieren zu lassen. Den vorerst letzten. Sowohl von der Landschaft als auch vom Wetter her war es der abwechslungsreichste Tag auf der Transsib. Schnee, Graupel, Regen, Sonne, Wolken: außer Gewitter war eigentlich alles dabei. Vor allem aber waren Berge und Flüsse dabei. Von allen Transsib-Abschnitten, die wir bei Tageslicht genießen durften, war der rund um Krasnojarsk bisher der schönste. Sich auf den Hügeln ausbreitende Datschensiedlungen, sich am Horizont auftürmende Berge, ihre Schornsteine in den Himmel streckende Industrieanlagen.






Aufgrund der strategisch geschützten Lage im Landesinneren wurde Krasnojarsk zu einem Zentrum der sowjetischen Atom- und Rüstungsindustrie. Das sieht man dem Stadtbild natürlich an. Statistisch ablesen kann man die luftverschmutzende Industrie sicher an einer auch im russischen Vergleich niedrigen Lebenserwartung. Die meisten Russlandbesucher haben Krasnojarsk übrigens schon einmal gesehen: der 10-Rubel-Schein zeigt nämlich die Paraskewa-Pjatniza-Kapelle in Krasnorjarsk und die dortige Brücke über den Jenissei (der angeblich wasserreichste Strom der Erde, der Sibirien in West- und Ostsibirien teilt).Die Brücke ist zwar vor ein paar Jahren durch einen Neubau ersetzt worden, aber nach wie vor beeindruckend. Wenige Kilometer nach der Brücke zweigt übrigens eine Nebenbahn nach Krasnojarsk 26 ab, das in erster Linie aus einer sog. „Atommüllwiederaufbereitungsanlage“ besteht. Weder Stadt noch Bahnstrecke waren in sowjetischen Karten eingezeichnet.





Freitag, 08.10, 08:57h (MEZ+7)

Nicht einmal mehr eine Stunde, dann sind wir in Irkutsk. Dann müssen/sollen/dürfen wir den lieb gewonnenen Zug nach fast vier Tagen verlassen. Auf der einen Seite schon irgendwie schade. Auf der anderen Seite überwiegt aber schon auch die Vorfreude auf mal wieder richtig Hände waschen, duschen und eine frische Unterhose anziehen. Und natürlich auf Irkutsk, die angeblich schönste Stadt Sibiriens. Die Bahn müssen wir ja nicht lange entbehren, in gut 20 Stunden geht’s schon wieder weiter Richtung Beijing – dann allerdings im Schlafwagen, von den russischen Platzkartny-Waggons müssen wir uns verabschieden. Von den verrückten Klamotten-, Bücher- und Schmuckverkäufern, die hier häufiger mal vorbeikommen und ihre Ware an den Fahrgast bringen wollen wahrscheinlich auch. Aber das Schöne an diesem Urlaub ist ja, dass nach dem Ende des einen Abenteuers immer gleich nach das nächste folgt.






Freitag, 08.10, 14:29h (MEZ+7)

Ich nutze die Chance, meine ersten Eindrücke von Irkutsk festzuhalten, bevor der altersschwache Bus anfängt, uns zum Baikalsee zu schütteln. Die Stadt ist sehr sympathisch, vor allem sind die Menschen ausgesprochen nett und hübsch. Der Reiseführer hat nicht zu viel versprochen, dass man von der Freundlichkeit der Menschen überrascht sein wird, wenn man aus dem europäischen Teil von Russland kommt. Etwas detaillierter dann später, der Bus fängt an zu schütteln…





Freitag, 08.10., 21:58h (MEZ+7)

Der Bus hat mehr als nur geschüttelt, da war schreiben wirklich unmöglich. Bei der ruppigen Fahrweise auf der achterbahnartigen Straße war außer Festhalten überhaupt nicht viel möglich. Dieser Bus von Irkutsk nach Listvianka hatte aber gegenüber dem Bus zurück nach Irkutsk dennoch einen großen Vorteil: er ist überhaupt gefahren. Im Reiseführer war die letzte Rückfahrt mit 18:00h angegeben, das wurde uns im Irkutsker Busbahnhof (ein grandioses Kleinod, in dem die Zeit seit Jahrzehnten stillsteht!) bestätigt, wo man uns eine Rückfahrkarte für den 18-Uhr-Bus verkauft hat. In Listvianka haben wir uns dann vom Busfahrer noch einmal bestätigen lassen, dass er um 18 Uhr zurückfährt. Der aufmerksame Leser wird sich schon denken, wie die Geschichte ausgegangen ist… Busticket umsonst gekauft, eine dreiviertel Stunde in der Kälte gestanden und dann mit einem der zahlreichen halsbrecherischen Marschrutki-Minibusse irgendwo an den Stadtrand von Irkutsk gebraust, mit Hand-und-Fuß-Konversation schließlich zurück in die Innenstadt gefunden.




Listvianka selbst war definitiv weniger aufregend als die Rückfahrt. Das Kaff ist zwar vier Kilometer lang, aber – zumindest im Oktober – ziemlich leer und langweilig. Bei einem der Versuche, einen Hügel zu erklimmen, um den Baikalsee von oben zu sehen, sind wir im wahrsten Sinne des Wortes fast vor die Hunde gegangen (Zitat Markus: „Scheißköter, in China werden wir euch alle auffressen!“).
An der Terrasse vor dem vergammelten Hotel aus Sowjetzeiten dann endlich der erhoffte Blick hinunter auf den majestätischen Baikalsee und die schneebedeckten Berge am anderen Ufer. So groß wie Belgien, doppelt so viel Wasser wie die Ostsee, 20% der weltweiten Süßwasserreserven, 636 Kilometer Nord-Süd-Ausdehnung, 2.000 Kilometer Uferlänge, im Winter bis zu 150 Zentimeter Eisdicke. Diese Zahlen zeigen: der Baikalsee ist schon eine Nummer!






Freitag, 08.10., 23:02h (MEZ+7)

Wir müssen zwar morgen um 4:00h aufstehen, trotzdem bin ich noch wach, weil uns der Schwede und die Polin gerade noch auf ein Bier eingeladen haben. Vorher hatten wir mit den beiden Franzosen Spaghetti gekocht. Die Franzosen haben uns erzählt, dass die drei Polen, die wir heute Morgen kennengelernt und dann heute Nachmittag im Bus nach Listvianka wiedergetroffen haben, vorhin Hals über Kopf aufgebrochen sind, weil sie doch noch Karten für den Abendzug Richtung Mongolei bekommen haben. Das wissen die beiden Finnen, die heute Morgen auch dabei waren und gerade reingekommen sind, sicher noch gar nicht.
Was ich damit sagen will: wir haben heute endlich wieder andere (Rucksack-)Touristen getroffen! Mit denen man englisch sprechen kann! That’s so unbelievable!