Montag, 25. April 2011

Beijing

Montag, 11.10., 22:03h (MEZ+6)

„Luft! Reine Luft! Die Luft ist hier so rein!“ Das ist nicht nur ein Zitat aus dem grandiosen Film „Der Schuh des Manitu“, das ist auch der aktuelle Zustand von Beijing! Blauer Himmel, kein Smog, keine stinkenden (Diesel-)Autos und Busse, nicht einmal richtiges Verkehrschaos. Stattdessen zahlreiche Elektrofahrräder und –roller, Gasbusse, bewachte Fahrradparkplätze, riesige Fahrradspuren, einfach Wahnsinn. Natürlich trotzdem viel Autoverkehr, aber geradezu lächerlich im Vergleich mit dem schlechten Ruf, der Beijing in Bezug auf Luft und Verkehr vorauseilt. Überhaupt sind wir total begeistert von der Stadt, den höflichen Menschen, den Sehenswürdigkeiten, dem Essen. Der Start war ein wenig holprig, bis wir endlich im 4. Stock eines Business-Towers die Filiale der Bank of China, die unsere Rubel dann doch nicht umtauschen konnte („I’m sorry to tell you this, but I think if our bank can’t do this no bank can do it“), gefunden hatten, war fast eine Stunde vergangen. Dann die nächsten zwei Prüfungen: Fahrkarte für die Weiterfahrt nach Dalian kaufen (ging relativ einfach, wir bleiben jetzt doch bis Freitagabend in Beijing) und das Hostel finden. Die Beijinger U-Bahn ist das komplizierteste, was ich jemals an U-Bahn erlebt habe: die IC-Karte, auf die man sich Geld laden kann, gibt es ausgerechnet am Hauptbahnhof nicht. Also muss man sich ziemlich lange anstellen, um einen Einzelfahrschein zu kaufen. Man kann aber auch nicht mehrere Fahrscheine auf einmal kaufen, denn sie gelten nur am Kauftag ab dem gekauften Bahnhof. Danach gleich die nächste Schlange: Gepäck scannen lassen, wie am Flughafen. Dann geht es – nach Passieren der Bahnsteigsperre – endlich runter in die – vermutlich typisch asiatisch – recht enge und vor allem volle U-Bahn, mit großen Rucksäcken kein großes Vergnügen. Immerhin ist die U-Bahn wie eigentlich die gesamte Stadt sehr sauber und (auch) englisch beschildert.
Nach U-Bahn, Bus und schließlich doch noch Taxi haben wir das Hostel gefunden, das coolste Hostel, in dem ich je war (danke, liebe Lisi, für die Empfehlung!). Mitten in einem alten Hutong gelegen, urige Zimmer, freundliches Personal und coole Gäste – das City Walls Hostel alleine ist eigentlich schon eine Reise nach Beijing wert!

Jetzt habe ich schon so viel geschrieben und die Highlights des Tages noch gar nicht erwähnt. Das sind zum einen die letzten zwei Stunden Zugfahrt – mit 40 Tunnels durch ein beeindruckendes Gebirgstal, anschließend dann noch eine Art Stadtumrundung in Beijing – und der Sonnenuntergang auf dem Kohlehügel mit beeindruckendem Rundblick auf die gesamte Innenstadt von Beijing. Anschließend waren wir dann noch im Park der weißen Pagode und haben an den beliebten Hinteren Seen Abend gegessen (Schafsleber ist echt lecker!). Im Restaurant die zwei Australierinnen aus dem Hostel getroffen, auf dem Rückweg ein typisches Hutong mit freilaufenden Omas und zugehörigen Gänsen entdeckt. Erster Eindruck: Beijing ist toll! Die lange Anfahrt hat sich nicht nur der Anfahrt wegen gelohnt.








Dienstag, 12.10., 15:21h (MEZ+6)

Noch zwei Tage, dann können wir vielleicht akzentfrei rotzen. Diese lustige Sitte, dass man die bösen Geister aus dem Rachen jagt, indem man unter überraschend starker Lärmentwicklung alles sammelt, was zwischen Bauchspeicheldrüse und Gaumen an Rotz vorhanden ist und das aus voller Inbrunst und mit tiefer Überzeugung auf den Boden spuckt, müssen wir uns unbedingt auch aneignen. Obwohl uns der Schaffner ab dem ersten Bahnhof in China mit lautstarken Rotz-zwischen-Bahnsteig-und-Zug-Spuck-Aktionen auf das vorbereitet hat, was noch kommen soll, muss ich mir noch immer jedes Mal das Lachen unterdrücken, wenn im Park hinter uns mal wieder ein Rotzvulkan explodiert.
Apropos im Park das Lachen verkneifen: heute Morgen um kurz nach sechs haben wir im Ritan-Park den Tai Chi-Übungen der Einheimischen beigewohnt. Das Ganze ist viel individueller als wir dachten: der eine steht zehn Minuten vor einem Baum und lässt Luft aus der Lunge, der nächste lässt unentwegt seine Knie drehen, während der dritte vehement und andauernd in die Luft tritt. Dazu gesellt sich die kleine Rentnergruppe, die laut lachend im Kreis läuft. Unterbrochen immer wieder von Schreien, wie wenn eine Sau geschlachtet würde. Tai Chi ist also sehr interessant, für uns unwissende Langnasen aber vor allem auch lustig.




In den Park rotzen und dort laut rumbrüllen ist also völlig in Ordnung. Was hingegen gar nicht geht, ist mit einem Taschentuch die Nase zu putzen. Jedes Mal, wenn ich das mache, werde ich mit bösen Blicken bestraft. Der arme Chinese, der heute Morgen im Bus neben Dirk saß, konnte seiner laufenden Nase mit hochziehen nicht gerecht werden, also musste er die ganze Zeit einen Nasenflügel zuhalten. Nach dem Aussteigen konnte er sich dann wahrscheinlich professioneller helfen: richtig hochziehen und aus voller Inbrunst rausrotzen.


Dienstag, 12.10., 18:27h (MEZ+6)

Der zweite Tag in Beijing nähert sich dem Ende, der positive Eindruck vom ersten Tag bleibt. Bei erneut schönem, warmen Wetter ein intensives Besichtigungsprogramm durchgezogen, von Kaiserpalast bis Sommerpalast, von Tai Chi bis Tiananmen, von putzigen Hutongs bis zur Planning Exhibition Hall. Jetzt sind wir mal wieder in der U-Bahn, die ich nach wie vor ziemlich lahmarschig finde. Aber wenigstens haben wir zum ersten Mal einen Sitzplatz, deshalb kann ich kurz das Tagebuch füttern. Verpasse dadurch natürlich die animierte Werbung an der Tunnelwand, aber animierte Werbung gibt’s in Beijing eigentlich überall…

















Dienstag, 12.10., 21:32h (MEZ+6)
Bin ich zu groß oder sind die Asiaten zu klein? Hier in China trifft wohl eher ersteres zu. Die Beule am Hinterkopf von der Decke im Hostel-Zimmer hat eben beim Duschen ganz ordentlich geschmerzt, an der Stirn bleibt mir eine Beule wohl erspart, so hart war der Aufprall mit der U-Bahn-Haltestange nicht.
Ob U-Bahnen, Schiffe oder Durchgänge: ständig bin ich hier gebückt unterwegs. Das Kichern hinter meinem Rücken über den Europäer mit der langen Nase bleibt mir natürlich auch nicht verborgen. Ich finde es aber sympathisch. Kann mich ja auch nicht beschweren, hab schließlich immer eine gute Aussicht über die ganzen schwarzhaarigen Köpfe hinweg. Überhaupt Kichern: kichern, lächeln und lachen scheinen die drei Lieblingsbeschäftigungen der Chinesen zu sein. So sehr kann man sich gar nicht verstellen: ich glaube, sie sind wirklich ausnehmend freundlich und haben Humor. Wenn man sich mal gar nicht versteht, wird einfach auf beiden Seiten laut gelacht. In dieser Stadt wird ausnehmend oft gelacht. Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft reicht auch durch alle Bevölkerungsgruppen, vom Jugendlichen, der der gerade in den Bus eingestiegenen Oma seinen Sitz zur Verfügung stellt bis hin zu Soldaten und Security-Leuten, die sich höflich erkundigen, ob sie uns weiterhelfen können.
Ich möchte Beijing (und China) nicht zu sehr in den Himmel loben, über Mao-Kult, Menschenrechte und Militärpräsenz, über Propaganda, Parteiproporz und Planwirtschaft habe ich noch nichts geschrieben. Aber ich kenne wenige Städte, in denen ich mich als Fremder von Anfang an dermaßen wohl gefühlt habe wie hier in Beijing.


Mittwoch, 13.10., 16:46h (MEZ+6)

China ist ein großes Land mit sehr vielen Menschen (derzeit etwa 1,3 Milliarden). Das sind so viele Menschen, dass man früher gar nicht genug Lebensmittel für die ganzen Leute hatte (das Problem wurde dadurch verschärft, dass unter Mao den Bauern das Getreide abgepresst und bei anderen Ländern gegen Atomtechnologie eingetauscht wurde, woraufhin unter anderem in der DDR die Lebensmittelrationierung aufgehoben werden konnte). Also hat man nach Möglichkeiten gesucht, die Bevölkerungszahl zu beschränken (wiederum der große Mao fand in diesem Zusammenhang ein paar Millionen verhungerte Bauern nicht so tragisch, die Leichen seien ja Dünger für den Boden). Eine erfolgreiche Maßnahme zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums war die „Einführung“ der 1-Kind-Familie, weshalb es heute in China hunderte Millionen von Einzelkindern gibt (und außerdem einen deutlichen Männerüberschuss, weil man die mögliche Tochter doch lieber abtreibt, wenn man nur ein Kind haben darf). Als ein weiteres Mittel zur Bekämpfung des Bevölkerungsüberschusses hat man schließlich (westliche) Autos eingeführt, den Menschen aber nicht richtig beigebracht, wie man diese (sicher) fährt.
Damit bin ich endlich da angelangt, wo ich mit diesem Tagebucheintrag hinwollte: unsere halsbrecherische Autofahrt von Jinshanling nach Myun. Mittlerweile sind wir im regulären (und gesittet fahrenden) Linienbus von Myun zurück nach Beijing, werden also unseren Tagesausflug zur Großen Mauer aller Voraussicht nach überleben.
Die Große Mauer, in Deutschland meist „Chinesische Mauer“ genannt, ist zwar theoretisch über 6.000 Kilometer lang, davon aber der Großteil als aufgeschütteter Löß, nur vergleichsweise wenige Abschnitte sind aufwändig mit Steinquadern errichtet, von denen wiederum die meisten zumindest teilweise verfallen und nicht begehbar sind (vom Mond aus sieht man die Mauer sowieso nicht, keine Ahnung, wie sich dieses schwachsinnige Gerücht im Zeitalter von Google Earth immer noch halten kann). Bleiben ein paar wenige Abschnitte der Großen Mauer, die saniert und für Touristen zugänglich sind. Im Umland von Beijing sind es derer vier. Diese vier Abschnitte sind wohl allesamt beeindruckend, aber auch entsprechend überlaufen. Die schlimmsten Geschichten hört man aus Badaling („wie in den Universal Studios“), das man von Beijing aus in nur einer Stunde mit Bus oder Bahn erreichen kann. Mit Abstand am schlechtesten zu erreichen und somit mutmaßlich am wenigstens überlaufen ist – richtig geraten, Jinshanling. Also wollten wir natürlich dahin. Von einer individuellen Anreise in das 140 Kilometer nordöstlich von Beijing in den Bergen gelegene Kaff wird abgeraten, stattdessen werden von den Reiseführern die teuren geführten Touren der Hotels und Hostels empfohlen – richtig geraten: wir haben es trotzdem versucht. Ausgestattet mit einer Karte, auf der unser Reiseziel in chinesischen Schriftzeichen angegeben ist, und dem Ehrgeiz, mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis nach Jinshanling zu kommen, sind wir heute Morgen um kurz nach sechs gestartet.
Die Hinfahrt hat fast fünf Stunden gedauert und letztlich haben wir fünf Euro mehr bezahlt als bei der geführten Tour, aber das war dieses lustige, seltsame und auch gefährliche Abenteuer wert. Manche Fragen werden wir nie beantworten können: mit wem habe ich eigentlich telefoniert, als mir die Schaffnerin im Bus das Handy in die Hand gedrückt hat? In welchem Verhältnis steht die Schaffnerin zum Fahrer des „Taxis“, dass sie uns organisiert (oder doch besser aufgedrückt?) hat? Wie viel Geld haben die Schweizer, die wir im Zug kennen gelernt und heute auf der Mauer wieder getroffen haben, für ihre Mauertour mit Guide und Lunchpaket bezahlt? Wie konnte unser Fahrer nur den Motor abwürgen, als er in langsamer Bergauffahrt in der Linkskurve im fünften Gang während des Überholvorgangs plötzlich den dicken Lkw direkt auf ihn zukommen sah? Egal. Wir haben den Chaostrip im Kamikazetaxi ja irgendwie überlebt.
Die Wanderung auf der Mauer war übrigens großartig und tatsächlich überhaupt nicht überlaufen. Hätte ich fast vergessen zu erwähnen.










Mittwoch, 13.10., 22:45h (MEZ+6)

Das Problem ist: wenn man erst einmal nur nach dem Preis fragen will, hat man den Gegenstand meist schon in der Hand und kommt nur noch schwer am Kauf vorbei. Will man kaufen, muss man handeln. Ist zwar ziemlich sinnlos, wenn der vom Verkäufer geforderte Preis eh schon nur 3 Yuan (etwa 30 Cent) beträgt, aber so macht man das hier halt mal (man kann Preise natürlich auch nach oben handeln, wie Dirk gestern erfolgreich probiert hat). Zeigt man überhaupt kein Interesse, geht der Verkäufer schon mal auf 1/3 des ursprünglich geforderten Preises runter (so geschehen bei einer Mao-Uhr, aber was will ich mit der, ich habe keine Hitler-Uhr, zu der sie passen würde). Ist dem Verkäufer klar, dass man das Produkt haben will, bleibt er oft stur beim Ausgangspreis. Aber völlig egal, auf welchen Preis man sich geeinigt hat: beim Rückgeld wird man dann doch meistens beschissen.
Zwei extreme Auswüchse von Touristennepp durften wir heute erleben: zum einen das von der vertrauenserweckenden Busschaffnerin (die uns wahrscheinlich von Anfang an nach Strich und Faden verarscht hat) organisierte „Privattaxi“ zur Großen Mauer, dessen Fahrer wir heute zu einem 13. Monatsgehalt verholfen haben. Zweitens die Pekingente, die wir uns heute zum Abendessen gegönnt haben. Wir haben uns von der Hostelmitarbeiterin einen Tisch reservieren lassen, der Hostelmitarbeiterin haben die nicht-nur-den-Hals-von-Enten-Abschneider den Entenpreis genannt, der wohl für Einheimische gilt. Wir mussten – ausgestattet mit englischer Speisekarte und der vermutlich einzigen englisch sprechenden Bedienung – etwa 100 Yuan (10 Euro) mehr zahlen.
Die Chinesen sind also nicht nur findige Geschäftsleute, sie können auch richtige Gauner sein. Wir mögen sie irgendwie trotzdem. Wahrscheinlich deshalb, weil sie ständig lächeln, kichern und lachen.


Donnerstag, 14.10., 22:26h (MEZ+6)

Der heutige Tag stand ganz im Zeichen der Architektur. War zwar nicht unbedingt so geplant – sonst hätten wir den Tag wohl kaum am Himmelstempel begonnen -, aber hat sich dann durch ein paar spontane Zufälle irgendwie so ergeben. Wer konnte ahnen, dass wir auf der Suche nach einem Café zur kurzen Pause auf ein (architektonisch) interessantes Einkaufszentrum stoßen, in dem es dann sogar noch eine Frank-Gehry-Ausstellung gibt? Wer konnte ahnen, dass der neue Central Business District (CBD) von Beijing dermaßen abwechslungsreich und voll spannender Architektur ist? CCTV-Tower von Rem Koolhaas und Schwalbennest von Herzog & de Meuron waren sowieso Pflichtprogramm.
Aber der Reihe nach: das Einkaufszentrum hat mich vor allem deshalb so begeistert, weil dort viel im Freien stattfindet. Geht bei uns der Trend derzeit von der Einkaufsstraße unter freiem Himmel hin zum komplett überdachten privatisierten öffentlichen Raum in Form einer Mall im amerikanischen Stil (mit großen Ankergeschäften an den Enden, imitierten Shoppingpassagen und Unterhaltungsprogramm), so kombiniert das Einkaufszentrum Soho Shangdu in Beijing meiner Meinung nach das Beste aus beiden Konzepten: die Ankergeschäfte sind in einzelnen Kuben untergebracht, das Zentrum des Einkaufszentrums ist eine Art Marktplatz mit Sitzgelegenheiten unter freiem Himmel, von dem aus man Zugang zu den einzelnen Kuben sowie zu den größeren Gebäuden mit mehreren Geschäften hat. Also kurze Wege und dennoch „Leben auf der Straße“ (Tipp zu diesem Einkaufszentrum: in Google Earth die Koordinaten 39°55‘50‘‘ Nord und 126°26‘50‘‘ Ost suchen und mit dem Zeitschieberegler zwischen 2001 und 2010 entlangwandern, um sich von der Geschwindigkeit und Radikalität des chinesischen Stadtumbaus überraschen zu lassen!).
Natürlich ist das Leben auf der Straße – ich denke da an die Kartenspieler in den Hutongs, an die Schach spielenden Rentner in den Parks und natürlich an die zahlreichen Garküchen am Straßenrand – in Beijing viel mehr kulturell verankert als in Deutschland, aber ich würde mir in Deutschland wünschen, dass die Entwicklung mehr zum chinesischen das-wirkliche-Leben-findet-auf-der-Straße-statt-Modell geht als zum amerikanischen vom-klimatisierten-Auto-über-die-klimatisierte-Tiefgarage-in-die-klimatisierte-Mall-Modell.



Bevor ich weiter vom Einkaufszentrum schwärme: auch der in den letzten Jahren entstandene neue CBD hat uns sehr positiv überrascht. Vor allem deshalb, weil er keine aus dem Boden gestampfte Glasfassaden-Wunderwelt (wie z.B. die Moscow City) ist, sondern weil er richtig Leben und Charme aufweist. Überall zwischen den fast durchweg interessanten Glasfassaden stecken noch alte Hutong-Reste, ungepflegte Wohnhochhäuser aus den 1950er Jahren und einzelne Brachflächen. Das verleiht dem ganzen so viel Charme, das sich der CBD von Beijing durchaus nicht vor dem Financial District in Manhattan verstecken muss. Allerdings steht natürlich zu befürchten, dass dieser Charme in den nächsten Jahren dem weiteren Ausbau des CBD weichen muss. Dann ist auch das andere Merkmal in Gefahr, das uns so begeistert hat: das Leben auf der Straße. Das Prinzip der Funktionsmischung, Wohnen, Einkaufen und Arbeiten auf einem Fleck, scheint hier zu funktionieren. Setze einen Wal-Mart in ein Geschäftsviertel und es kommen auch Leute ohne Anzug und Krawatte auf die Straße.











Ich könnte jetzt weiterschwärmen über „Schwalbennest“ und „Wasserwürfel“, die bekanntesten der zahlreichen Olympiabauten – vor allem wenn es dunkel wird und die Beleuchtung angeht, sind beide Gebäude sehr spektakulär! -, aber es muss ja jetzt auch mal was negatives geäußert werden. Die Bauqualität zum Beispiel ist in China oft unter aller Sau – die einzelnen Gebäude des Einkaufszentrums wären in Deutschland von keiner Bauaufsicht abgenommen worden. Warum manche nagelneue Gebäude im CBD bereits ziemlich alt aussehen und vor allem durch verdreckte Fensterscheiben auffallen, wissen wir nicht genau. Eine mögliche Erklärung wäre der aus der Wüste Gobi angewehte Sand, ein in Beijing recht häufiges Phänomen (haben wir auf einer nächtlichen Taxifahrt am Tiananmen auch gesehen). Der Sand könnte sogar die Glasstruktur an den Hochhäusern angreifen, aber das ist nur so eine Theorie von uns.
Realität hingegen ist, dass überall dort, wo jetzt diese ach so schönen Neubauten stehen, vorher auch schon Gebäude standen. In der Regel alte Hutongs, in denen die Menschen seit Jahrhunderten – zwar ohne fließendes Wasser, aber dennoch glücklich – gelebt hatten. Diese Menschen wohnen jetzt in gesichtslosen Neubauten am Stadtrand, wo man sich nur schwer mit den Nachbarn auf der Straße zum Kartenspielen treffen kann. Gegen die Zerstörung ihrer Häuser können diese Menschen in der chinesischen Diktatur nicht vorgehen. Manche sollen sogar einen Termin bei der Stadtverwaltung bekommen haben, wo sie ihre Probleme bei und mit der Umsiedlung vortragen durften, und als sie dann von diesem Termin zurückkehrten, war ihr komplettes Haus mitsamt den Möbeln zerstört. Das ist die hässliche Seite von Beijing, die sich aber hinter schönen Glasfassaden versteckt und für (uns) Touristen deshalb nicht sichtbar ist.







Freitag, 15.10., 18:51h (MEZ+6)

Da liegen sie, die beiden Langnasen, und werden von allen, die vorbeilaufen, mit überraschten Blicken bedacht. In den Beijinger Bussen, in denen wir in den letzten Tagen viele Stunden verbracht haben, waren wir schon daran gewöhnt, die einzigen zwei Nicht-Asiaten zu sein. In einem Nachtzug ist das dann doch noch mal eine ganz andere Situation. Das richtige Gleis und den richtigen Wagen haben wir gefunden, das Schriftzeichen für „mittlere Liege“ kennen wir jetzt auch. Warum wir aber gerade bei der Schaffnerin unsere (Papier-)Fahrkarte gegen eine Chipkarte getauscht haben, auf der die Bettnummer, der Himmelstempel und ein paar chinesische Schriftzeichen abgedruckt sind, ist uns noch ein Rätsel. Vielleicht werden wir es gelöst haben, bis wir morgen früh in Dalian – eine weitere dieser chinesischen Fünf-Millionen-Städte, von denen man noch nie etwas gehört hat – ankommen.
Zeit, den letzten Tag in Beijing Revue passieren zu lassen. Dass es warm und sonnig und die Luft klar war, muss ich wohl nicht erwähnen, war ja an allen fünf Tagen selbstverständlich (den letzten Regen haben wir in der Wüste Gobi gesehen…). Die vielen urigen Hutongs, die ich entdeckt habe, sind vielleicht erwähnenswert, vielleicht auch das spannende Kunstquartier 789, der Lamatempel (mit einer gefühlt fünf Stockwerke hohen goldenen Buddhafigur im hintersten Gebäude), der tolle Blick von der ersten Reihe im Doppeldeckerbus-Obergeschoss auf das Beijinger Verkehrsgeschehen, der Glockenturm. Es gäbe einiges auszuführen, das Kapitel Beijing ist jetzt aber abgeschlossen. Schade eigentlich.




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