Montag, 25. April 2011

Irkutsk - Mongolei - Beijing

Samstag, 09.10., 11:32h (MEZ+7)

Draußen lässt der Schneefall wieder nach, die Attraktivität der Landschaft hat schon vor längerer Zeit wieder etwas nachgelassen. Der hinter uns liegende Streckenabschnitt war aber der definitiv schönste unserer bisherigen Transsib-Reise. Am linken Fenster der majestätische Baikalsee, am rechten Fenster die schneebedeckten Berggipfel, die wir gestern aus der Ferne erahnt hatten. Die Berge sind 2.000 bis 2.500 Meter hoch, wirken aber aufgrund der Schneemassen an ihren Hängen – im Vergleich zum schneefreien Seeufer – viel höher.





Im Gegensatz zu gestern hat der Baikalsee heute auch eine ordentliche Brandung zu bieten. Schade, dass man den See schlecht fotografieren kann, denn die (natürlich nicht zu öffnenden) Fenster sind noch viel verschmutzter als im russischen Zug, mit dem wir von Moskau nach Irktusk kamen.
Wie, wir sind nicht mehr in einem russischen Zug? Nein, der Expresszug von Moskau über die Mongolei nach Beijing wird von der chinesischen Staatsbahn betrieben. Merkt man vor allem am Aussehen der Zugbegleiter und an den chinesischen Schriftzeichen überall im Waggon. Offiziell sind wir ja schon seit der Überquerung des Ural„gebirges“ in Asien, allmählich sieht man es auch endlich mal. Schon in Irkutsk sind uns erstmals viele Einwohner mit asiatischen Gesichtszügen aufgefallen (vermutlich handelt es sich um Burjaten, ein einst aus der Mongolei eingewandertes Volk, heute die größte nationale Minderheit in Sibirien). Noch auffälliger allerdings die Fahrzeuge: die meisten der allesamt furchtbar stinkenden Stadtbusse stammen aus koreanischer Produktion (Kia, Hyundai, Daewoo), ein Großteil der Autos aus japanischer Produktion. Lustiges Detail am Rande: aufgrund des in Japan herrschenden Linksverkehrs haben die von dort gebracht übernommenen Autos – gefühlt etwa 60% der Fahrzeuge in Irkutsk – ihr Lenkrad am rechten Fleck, obwohl natürlich, wie überall in Russland, Rechtsverkehr herrscht. Führt zu absurd lustigen Situationen, wenn Kleinkinder vorne links im Auto sitzen und man erst später checkt, dass der Fahrer rechts sitzt; es erschwert aber beim Überqueren viel befahrener Straßen die Blickkontaktsuche mit dem Autofahrer, weil man nie weiß, ob dieser links oder rechts sitzt. Generell war in Irkutsk – ansonsten eine sehr sympathische, schicke und weit weniger touristische Stadt als befürchtet – die Luftverschmutzung noch viel übler als in Moskau. Wollen wir mal hoffen, dass das kein schlechtes Omen ist für die bevorstehenden Stadtbesichtigungen in China…









Samstag, 09.10., 15:10h (MEZ+7)

Die ursprüngliche Haupttrasse der Transsibirischen Eisenbahn führt von Ulan-Ude weiter nach Osten, um nach nochmals über 3.600 Kilometern in Wladiwostok den Pazifik zu erreichen. Wir haben diese Strecke nun verlassen, um auf der – erst in den 1950er Jahren fertiggestellten – „Transmongolischen Eisenbahn“ auf Beijing zuzusteuern. Interessanterweise ist die Strecke seit dem Abzweig von der Transsib viel spannender: mit einer Diesellok an der Spitze windet sich unser Zug auf einer eingleisigen, nicht elektrifizierten Strecke durch das Selengatal hinauf zur mongolischen Grenze. Für die 250 Kilometer wird der „Expresszug“ – bei nur einem Zwischenhalt! – fünf Stunden brauchen. Nach meinem Geschmack könnte er sogar noch langsamer durch diese interessante Landschaft eiern. Das Landschaftsbild gibt uns Rätsel auf: in der Mitte des Tales der breite Fluss, der Talboden aber eine scheinbar völlig unfruchtbare Steppenlandschaft mit vereinzelten vertrockneten Büschen. Im oberen Teil der das Tal begrenzenden Hügel dann plötzlich dichte Wälder. Warum unten Wasser und oben Vegetation? Anthropogener Einfluss durch Überweidung? Vom Fluss (aus der Mongolei) angeschwemmter nährstoffarmer Sandboden? Hätte ich doch mal die Vegetationsgeographie-Vorlesung besucht, aber da war immer irgendeine blöde Nebenfachveranstaltung parallel…









Samstag, 09.10., 21:54h (MEZ+7)

Meine Lieblingsstadt heißt neuerdings Schengen. In diesem luxemburgischen Kaff wurde 1985 beschlossen, dass man innerhalb der EU (bzw. der sog. „Schengen-Staaten“) keine Grenzkontrollen mehr über sich ergehen lassen muss. Seitdem heißt es im Radio nicht mehr „in Kiefersfelden Blockabfertigung, für Pkw eine Stunde Wartezeit, für Lkw sechs Stunden“. Zwischen Russland, der Mongolei und China gibt es keine derartigen Abkommen. Ich führe keine radioaktiven Materialien mit mir, plane derzeit keinen Terroranschlag und könnte die Zollgebühr für meine Goldringe, so ich denn welche hätte, eh nicht selber berechnen. Aber meine Blase platzt gleich, Herrgott noch mal! Ich will jetzt endlich pissen und nicht noch so ein dämliches Formular ausfüllen, dass ich gar nicht ausfüllen kann, weil irgendeiner der zahlreichen Zöllner, die hier unter anderem begleitet von einem Zwergschnauzer (!) im Zug unterwegs sind, meinen Pass hat, in dem die dafür nötigen Daten stehen. Seit über vier Stunden dauert dieses Zinnober jetzt schon an, mal schauen, ob das noch was wird mit der Einreise in die Mongolei. Hoch lebe die Europäische Union!


Samstag, 09.10., 23:45h (MEZ+7)

Wahrscheinlich ist jetzt an jedem Ende des Zuges eine Lok und die beiden Lokführer haben richtig Spaß. Schlafen kann man bei diesem dauernden Gerumse nicht. Tagebuch schreiben leider auch nicht…


Sonntag, 10.10., 18:58h (MEZ+6)

Die Grenzabfertigung auf der mongolischen Seite hat heute Nacht nochmals über zwei Stunden gedauert. Dabei wurde der Zug wie oben kurz angedeutet ständig durchgerüttelt. Das erste, was der Schaffner dann heute Morgen in Ulan Bator zu tun hatte, war, uns das Ausreiseformular aus der Mongolei in die Hand zu drücken, dass wir doch bitte ausfüllen sollen…
Ulan-Bator scheint eine sehr interessante Stadt zu sein. Die Reiseführer sagen, dass es die kälteste Hauptstadt der Welt ist (heute Morgen waren es -4°C) und dass es die am weitesten von einem Ozean entfernteste Hauptstadt der Welt ist. Was in den Reiseführern nicht steht, ist, dass sich wohl keine Hauptstadt der Welt in den letzten zehn Jahren mehr verändert hat als Ulan-Bator. Von Glasfassaden-Skyline, asphaltierten Straßen und zahlreichen Hotels steht in den Reiseführern nämlich gar nichts. Ob es mittlerweile auch eine Postleitzahl und Hausnummern gibt konnten wir aus dem Zugfenster nicht ermitteln. Was es auf jeden Fall immer noch gibt sind die zahlreichen Jurtensiedlungen am Stadtrand (und natürlich erst recht im ländlichen Raum der Mongolei). Die Zelte stehen oft neben „richtigen“ Häusern, neben dem Eingang parkt in vielen Fällen das Auto, umgeben werden Jurte, Haus und Auto in der Regel von einem Holzlamellenzaun, dessen Sinn sich mir nicht erschließt, weil er an einer Seite unterbrochen ist.






Auf dem Land sehen die Jurten ähnlich aus, nur in der Regel ohne Haus nebendran und nur ganz selten mit Auto. Die Viehherden werden hier nach wie vor vom Pferd aus beaufsichtigt. Ein bisschen eine andere Welt (eine sehr schöne noch dazu) ist die Mongolei schon immer noch, daran können die paar Glasbauten im Zentrum der Hauptstadt nichts ändern.









Sonntag, 10.10., 19:45h (MEZ+6)

Zwei Dinge hatte ich mir für heute vorgenommen: ein Kamel in freier Wildbahn sehen und mit Tatjana und Philipp (die beiden Bayern, die wir gestern Abend an der Grenze kennen gelernt haben) Schafkopf spielen. Hat beides funktioniert. Dirk ist jetzt wahrscheinlich der erste Mensch, der in der Mongolei Schafkopf’n gelernt hat (an alle nicht-bayerischen Leser: es handelt sich um das beste Kartenspiel Bayerns und somit Deutschlands und somit der Welt).
Steppe, (Regen in der) Wüste Gobi, Viehherden, Nomaden: es war ein sehr interessanter Aufenthalt in der Mongolei. Die wenigen Zwischenhalte waren sehr interessant, wo gibt es schon noch geschotterte Bahnhofsvorplätze und mehr Tiere als Autos (ja, Elli, ich weiß, in Niederbayern)?! Vielleicht ist hier normalerweise auch mehr los, aber wir fahren halt an einem Sonntag durch…











Ein schönes, wenngleich schweinisch überteuertes Vergnügen war das Mittagessen im mit Holzschnitzereien verzierten und mit Pfeil und Bogen dekorierten mongolischen Speisewagen – zumindest dieses Klischee aus den Transsib-Fernsehdokus stimmt also doch.





Als wir aus dem Speisewagen zurück ins Abteil kamen, haben da schon die nächsten Formulare auf uns gewartet, arrival card und baggage declaration für China. Die Formulare sind ausgefüllt, der Pass ist mal wieder bei den Zöllnern, wir stehen seit über einer Stunde auf der mongolischen Seite der mongolisch-chinesischen Grenze. Gut fünf Stunden wird das Zinnober noch dauern, inklusive Drehgestellwechsel auf der chinesischen Seite. Lang lebe die Europäische Union…







Montag, 11.10., 7:44h (MEZ+6)

So, wir haben es geschafft, wir sind in China. Der Zug rollt durch eine schöne Gebirgslandschaft, die entfernt an die Toskana erinnert. Die Häuser sind allerdings verfallener und die Industrieanlagen schmutziger, auch die chinesischen Schriftzeichen und die modernen Windkraftanlagen wollen nicht ins Italienbild passen.





Ein Italiener saß uns gerade beim Frühstück im Speisewagen gegenüber. Sehr amüsant, wie wir versucht haben, die nicht streichfähige Butter mit den Stäbchen über das Toastbrot zu schmieren. Auch Frühstücksei mit Stäbchen essen stellt uns Langnasen vor eine unerwartete Herausforderung. Mal schauen, mit welchen Überraschungen das Mittagessen aufwarten wird, dass chinatypisch zwischen 10 und 11 Uhr serviert werden wird.
Die kostenlosen Verzehrgutscheine für Frühstück und Mittagessen waren das erste positive, was uns gestern Abend in China widerfahren ist. Der erste Eindruck hingegen war recht dubios, eigentlich war mir das Land nach 15 Minuten schon suspekt. Das rüde Verhalten der zahlreichen Soldaten auf dem Bahnsteig, die betont unfreundlichen Zöllner im Zug („WHAT’S YOUR NAME!!!“), die größenwahnsinnigen Lichtinstallationen an Bahnhof, Einkaufszentrum und Kirchturm (!), es war schon alles recht seltsam.
Mindestens genauso seltsam waren aber die mongolischen Soldaten, die bei der Ausfahrt des Zuges aus dem Land – bei Dunkelheit und Regen! - neben der Strecke standen und salutierten. Ich habe schon oft Grenzen überschritten, aber dieser Grenzübergang wird mir wohl ewig in Erinnerung bleiben…
Kleines Detail am Rande: an der mongolisch-chinesischen Grenze wurden die Drehgestelle getauscht, zurück auf die auch in China übliche „Normalspur“. Diesmal aber nicht bewacht von grimmigen weißrussischen Soldaten, sondern diesmal durften wir ganz offiziell – durch das geöffnete Fenster! – fotografieren und filmen. Das macht die Sache natürlich noch interessanter. Irgendwann bin ich dann aber doch eingeschlafen…






Montag, 11.10., 11:01h (MEZ+6)

Chjancszyokounan war gerade der letzte von immerhin 108 Zwischenhalten zwischen Berlin und Beijing. In drei Stunden werden wir die chinesische Hauptstadt erreichen. Noch fahren wir durch das ländliche China, immer mal wieder unterbrochen von einer Millionenstadt, von der wir noch nie etwas gehört haben. In Datong (1,2 Mio. Einwohner) hatten wir vorhin das Gefühl, dass große Teile der Stadt in den letzten fünf Jahren entstanden sind, vor allem natürlich die unglaubliche Masse an Wohnhochhäusern. Überhaupt, was und wo hier überall gebaut wird: riesige Brücken, unzählige Gebäude, Autobahnen; überall stehen Baukräne. Wie wenn man das gesamte Land betonieren wollte. Beeindruckend auch, wie viele Leute man dafür einsetzt: an einer kleinen Baustelle an der Bahnstrecke stehen schon mal 100 Bauarbeiter neben dem Gleis. Die Lohnkosten scheinen hier sehr niedrig zu sein. Und der Energiebedarf sehr hoch: in den wenigen Stunden in China haben wir jetzt sechs große Kohle- und Atomkraftwerke mit zusammen über 20 Kühltürmen gesehen. Gegen die Dimensionen der Kühltürme hier ist das Ruhrgebiet eine liebliche Dörferagglomeration. Wenn in Russland alles überdimensioniert ist, dann ist hier alles doppelt überdimensioniert.
Krass dann aber auch, was zwischen all den Kraftwerken ist: Land. Miniäcker, die mit Maultierfuhrwerken oder auch mit Hand und Spaten bearbeitet werden. Die extremen Disparitäten zwischen Stadt und Land fallen schon auf diesen ersten Kilometern in China auf.



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