Montag, 25. April 2011

Shanghai

Freitag, 22.10., 22:26h (MEZ+6)

„Wow! Verrückt! Abgefahren!“ Das waren in etwa unsere ersten Worte, als wir vorhin vom 492 Meter hohen World Financial Centre hinuntergeblickt haben auf die anderen Hochhäuser von Pudong, auf die grell erleuchteten Schiffe auf dem Huangpu-Fluss und auf das schier endlose Lichtermeer von Shanghai. Etwa 20 Millionen Menschen wohnen hinter diesen Lichtern. Das sind mehr als in New York oder Beijing. Etwa sechs Mal so viele wie in Berlin. Mehr als 5.000 Mal so viele wie in meinem Heimatort Schöllkrippen. Shanghai ist schon etwas besonderes, eine vergleichbare Glitzerwelt haben wir uns auf unserer bisherigen Reise noch nicht gesehen. Da muss man schon den Vergleich mit New York bemühen. Klar ist Manhattan einzigartig und unerreichbar. Umso faszinierender, dass Pudong innerhalb von 15 Jahren entstanden ist. Vor 20 Jahren gab es hier noch Reisfelder! Jetzt steht hier eine stattliche Anzahl von Hochhäusern, die eigentlich von der anderen Flussseite aus noch besser aussieht. Zur anderen Flussseite gelangt man am besten durch den Bund Sightseeing Tunnel, eine Art Geisterbahn für Erwachsene. Lichtilluminationen, hinter der Gondel runtergelassene Projektionswände, aufblasbare, winkende Figuren zwischen den Gleisen – so einen Quatsch gibt es nicht einmal in New York, das ist definitiv ein Alleinstellungsmerkmal von Shanghai. Von allen Metropolen unserer Reise ist Shanghai wie erwartet die abgedrehteste.







Dabei waren die ersten Schritte in der Stadt gewohnt ungewöhnlich. Nach dem Krampf in Beijing wollten wir diesmal unbedingt gleich eine IC-Karte – die aufladbare Karte für U-Bahn, Bus und Taxi – kaufen und haben bei der Tourist-Information am Hauptbahnhof – wo niemand vernünftig englisch spricht! – gefragt, wo wir denn die Karte kaufen können. Die eine freundliche Mitarbeiterin hat uns dann zu einem recht vergammelten Gebäude geführt, vor dem eine übelriechende ältere Dame kauerte, wie wenn sie gleich in den Torbogen kacken wollte. Sollte das ihr Ernst sein? Es war ihr Ernst, sie meinte wirklich dieses Gebäude. Vorbei an der kauernden älteren Dame und an im vergammelten Treppenhaus verteilten anderen, strickenden Omas haben wir unsere Rucksäcke bis in den 4. Stock gehievt, und siehe da: plötzlich standen wir in einem nagelneuen sauberen Büro, in dem wir tatsächlich die IC-Karte kaufen konnten.
Das Hostel war schnell gefunden, es bleibt also dabei: je größer die Stadt, desto kleiner das Problem, das Hostel zu finden. Die U-Bahn allerdings ist mal wieder gewöhnungsbedürftig. Zwar nicht so unnötig eng wie die in Beijing, aber genauso langsam. Gepäckkontrolle ist eh klar; dass Chinesen nicht mit Rolltreppen umgehen können und im U-Bahnbereich plötzlich von jeder Eile befreit zu sein scheinen, wissen wir schon länger. Wir verstehen aber immer noch nicht, warum das Abfertigen eines U-Bahnzuges eineinhalb Minuten dauern muss. Warum dauert es überhaupt so lange, bis der überfüllte Zug am überfüllten Bahnsteig endlich zum Stehen kommt? Warum können Zug- und Bahnsteigtüren nicht gleichzeitig öffnen und schließen, sondern jeweils um mehrere Nerv tötende Sekunden versetzt? Warum raffen Chinesen nicht, dass es effizienter ist, erst die Leute aussteigen zu lassen? Warum muss der Lokführer, wenn endlich die Türen geschlossen sind, noch warten, bis der Hansel auf dem Bahnsteig mit der grünen Fahnen schwenkt? Vom Moment, an dem alle Türen geschlossen sind, bis zur Abfahrt dauert es dann noch einmal (nicht repräsentative eigene Messung) zwischen 12 und 32 Sekunden. Insgesamt muss man unserer Messung nach zwischen dreieinhalb und vier Minuten pro Station mit der Shanghaier U-Bahn rechnen. Lächerlich, unverständlich und unnötig, zumal es sich um ein sehr neues U-Bahn-System handelt – die erste Strecke wurde erst 1995 eröffnet! Wir haben definitiv noch nie so dumme U-Bahnsysteme gesehen wie in China. Wahrscheinlich wäre Bus fahren schneller – wenn man irgendwo erfahren würde, wo die Busse hinfahren…


Samstag, 23.10., 16:12h (MEZ+6)

Man kann nicht sagen, dass wir heute besonders viel Glück gehabt hätten. Etwas übertrieben formuliert sind wir irgendwie vom Pech verfolgt, seit wir in Shanghai sind. Erst der holprige Start gestern Nachmittag. Dann sind wir nicht wie geplant bei Sonnenuntergang, sondern erst bei Dunkelheit auf dem Financial Centre, weil wir vorher diese dummen Werbevideos gucken müssen. Die Betten im Hostel sind die unbequemsten auf der ganzen Reise und das Hostel das unpersönlichste von allen. Seit gestern Abend regnet es ununterbrochen. Auf das überteuerte Frühstück heute Morgen mussten wir über eine halbe Stunde warten. Chinesen halten ihre Regenschirme etwa auf Höhe meiner Augen, sehen aber nicht ein, ihren Schirm mal hoch oder zur Seite zu nehmen, wenn sie an mir vorbeilaufen. Die Schifffahrt zur Jangtse-Mündung (wo es u.a. eine 32 Kilometer lange Brücke, einen riesigen Hochsee-Containerhafen und eine von vom Hamburger Architekturbüro gmp entworfene New Town zu sehen gibt) ist ziemlich misslungen: heute Morgen hat man uns auf 13:30h vertröstet, um 13:30h haben wir dann teure Tickets für das Schiff zur Jangtse-Mündung gekauft – nur ist das Schiff nie zur Jangtse-Mündung gefahren, sondern hat an der Mündung des Huangpu-Flusses in den Jangtse kehrt gemacht. Wir fahren gerade zurück ins Zentrum, ich habe keine Lust mehr, alle zehn Sekunden die angelaufene Scheibe freizuwischen und schreibe mir lieber mit diesen Zeilen den Frust von der Seele.







Sind das genug Gründe, schlecht gelaunt zu sein? So schlecht wie Dirk – der gerade den tristen Regen verschläft – bin ich (noch) nicht gelaunt, aber ich hätte im Moment auch nicht viel dagegen, wenn der Flug nach Hause morgen Abend starten würde und nicht erst in drei Tagen. An Tagen wie diesem wird einem schmerzlich bewusst, was die Heimat doch so alles zu bieten hat – sauberes Trinkwasser, hübsche Frauen und Pizza zum Beispiel. Heimweh nennt man dieses Phänomen wohl. Deshalb haben wir uns vorhin wohl so über die deutsche Bäckerei gefreut. Bretzl mit Senf, Schokocroissant, „richtiges“ Brot – lecker! Da habe ich sogar in Kauf genommen, dass im Hintergrund Xavier Naidoo lief…



Naja, Schwamm drüber, der Tag ist gelaufen, bis wir zurück sind ist es nämlich dunkel. Morgen frühstücken wir einfach gleich in der deutschen Bäckerei. Und finden vielleicht heut Abend doch endlich mal wieder eine Pizza. Oder eine hübsche Frau.


Samstag, 23.10., 23:03h (MEZ+6)

Im Nachbarzimmer vier Däninnen. Die Pizza war recht lecker.


Sonntag, 24.10., 19:53h (MEZ+6)


Das Shanghai Propaganda Poster Art Museum ist sehr interessant, weil es einen Einblick gibt in die neuere chinesische Geschichte, in die Kunst der Propaganda und in das Weltbild des Sozialismus. Auf insgesamt angeblich 5.000 Postern wird deutlich, wie die chinesische Bevölkerung jahrzehntelang auf den Sozialismus eingeschworen wurde. Kleine chinesische Jungs schießen auf amerikanische Soldaten, während das chinesische Mädchen auf dem Traktor sitzt und das Feld bestellt. Mao stellt sogar Lenin und Karl Marx in den Schatten. Der Arbeiter vor den roten Fabriken schiebt mit dem Bulldozer den im Panzer sitzenden amerikanischen Kapitalisten ins Meer. Alles sehr aussagekräftige Motive, handwerklich hervorragend und scheinbar realistisch.
In einem Raum der Ausstellung werden Wandzeitungen aus der Kulturrevolution gezeigt, auf denen sich die Bewohner eines Ortes oder Schüler und Lehrer einer Schule gegenseitig denunzieren konnten, was mitunter ohne weitere Gerichtsverfahren sogar zur Ermordung führen konnte. Auf einer englischsprachigen Infotafel wird kurz erläutert, welche Untaten in der Kulturrevolution begangen wurden. Das ist erstaunlich, denn das Thema Kulturrevolution wird sonst in China komplett ausgeblendet und diese Wandtafeln werden an keinem anderen Ort als in diesem Museum gezeigt.
So weit, so interessant. Nun die Gründe, warum mir die ganze Sache sehr suspekt vorkommt: warum gab es in der Ausstellung außer den zwei Angestellten – dem Direktor und einem sehr freundlichen, deutsch sprechenden Angestellten – keine anderen Chinesen? Obwohl man wohl nirgendwo sonst in China so ehrliche Worte über die eigene Vergangenheit findet, kommt nicht ein einziger chinesischer Besucher? Die Begründung des Mitarbeiters, die Chinesen würden sich schlicht nicht dafür interessieren (weil es die Alten sowieso kennen und die Jungen mehr an Geld und Karriere Interesse haben als an Geschichte) erscheint mir wenig plausibel. Warum ist das Museum im Kellergeschoss eines Wohnhochhauses versteckt, das nicht einmal direkt an einer Straße steht? Warum gibt es weder am noch im Gebäude noch im Fahrstuhl einen Hinweis auf das Museum? Hat man es bewusst in den internationalen Reiseführern lanciert, um den ausländischen Besuchern die scheinbare Offenheit Chinas im Umgang mit der eigenen Geschichte zu demonstrieren, versucht aber, es vor der einheimischen Bevölkerung zu verstecken?
Als wir mit aufgeschlagenem Lonely Planet und aufgeklapptem Stadtplan einen Passanten ansprachen, um ihn nach dem Weg zum Museum zu fragen, hat uns der Pförtner an einer Einfahrt zu drei Wohnhäusern zu sich gerufen und uns den Weg zum Museum („zum Haus B und dann nach unten“) gewiesen, ohne dass wir ihn danach gefragt hätten. Wie wenn er uns daran hindern wollte, dem Einheimischen von der Existenz des Museums zu erzählen. Ein weiteres Indiz für meine These, dass die Sache irgendwie zum Himmel stinkt? Oder leide ich unter Verfolgungswahn, nachdem ich schon so lange in autoritären Staaten unterwegs bin? 99% der Besucher würden ihren Tagebucheintrag über dieses Museum sicherlich nach dem zweiten Absatz beenden. Ich bin aber oft ein sehr skeptischer Mensch, zumal in einer Diktatur. So könnte ich – mit fließendem Übergang zur Verschwörungstheorie – meine Geschichte weiterspinnen. Welche Privatperson sammelt bitteschön tausende Propagandaposter und verbotene Wandzeitungen und stellt sie der Öffentlichkeit zur Ansicht zur Verfügung? Muss er keine Strafe von der Staatsseite fürchten? Es sei denn, er ist der Staat? Haben die beiden da unten die „good cop, bad cop“-Nummer nur gespielt? Warum kann der Typ so gut Deutsch, übersetzt uns aber die Wandzeitungen nicht? Warum darf man im Museum keine Fotos machen? Was von dem, was er uns alles erzählt hat, stimmt und was nicht? Auf die Frage, wer denn die Sammlung angefangen hat, haben wir von den zwei Mitarbeitern unterschiedliche Antworten bekommen. Es wird übertrieben sein, zu glauben, dass der ursprüngliche Sammler hingerichtet wurde und der Staat jetzt die Sammlung für seine Zwecke nutzt. Aber die subversive Kellersammlung, als die es rüberkommen soll, ist es wahrscheinlich nicht.




Da sind wir nun also angelangt beim Grundproblem, das viele Chinesen haben müssen: was und wem darf man glauben und was und wem nicht in einem Land, in dem Presse und Fernsehen zensiert sind, der Staat allgegenwärtig ist und Demonstranten meistens im Knast landen? Man merkt im alltäglichen Leben in China nicht, dass man in einer Diktatur ist. Das Zinnober der Soldaten auf dem Bahnsteig im chinesischen Grenzbahnhof. Das nicht-zugreifen-können auf facebook und unseren Blog. Die seltsamen Ergebnisse mancher google-Anfragen. Die überraschend guten Nachrichten in den (englischsprachigen) chinesischen Tageszeitungen. Die Soldaten und Taschenkontrollen an jedem U-Bahn-Eingang. Es sind viele kleine Bausteine, die im alltäglichen Leben schon nach wenigen Tagen nicht mehr groß auffallen. Ganz anders als in Russland hat man in China als Besucher selten das Gefühl, in einem autoritären, korrupten Staat unterwegs zu sein. Diese kleinen Bausteine summieren sich aber zu einem System, das vermutlich niemand in seiner gesamten Tragweite erfassen und verstehen kann. Ein Land, das uns in erster Linie begeistert. Ein Land, das aber auch viele Fragen aufwirft. Ein Land voller Widersprüche. Industrieanlagen ohne jeden Filter, aber neu zugelassene Autos müssen die Euro-4-Norm erfüllen. Überall sprießen neue Häuser aus dem Boden, aber auf den Baustellen schauen meistens 90% der Arbeiter den anderen 10% beim Arbeiten zu. Stets freundliche, lachende Menschen, die sich manchmal unglaublich rüpelhaft aufführen. Die Chinesen machen es uns nicht einfach, sie und ihr Land zu begreifen. Aber wir nehmen die Herausforderung gerne an, ein bisschen nachzudenken und zu diskutieren, um unser Reiseland zu verstehen.


Sonntag, 24.10., 21:11h (MEZ+6)

Das Propagandamuseum hat mich heute offensichtlich am meisten bewegt, aber es ist beileibe nicht das einzige, was wir heute gesehen haben. Mit der französischen Konzession und den Paradebauten am Bund haben wir die wohl schönsten Teile Shanghais gesehen. Mit der Planning Exhibition Hall haben wir eine (fünfstöckige) Ausstellung besucht, in der Geschichte und Zukunft der Stadt hervorragend aufbereitet wurden. Aber auch hier lohnt sich ein kritisches Hinterfragen. Auf der Wandtafel zur ach so nachhaltigen und umweltfreundlichen „eco-City“ Shanghai findet man ein Foto von der 32 Kilometer langen Brücke zum neuen Hochseehafen, über die ausschließlich eine sechsspurige Straße führt. Jeder einzelne Container, der vom zukünftig größten Containerhafen der Welt verschifft wird, muss mit dem Lkw dorthin gebracht werden. Umweltfreundlich ist was anderes. Auch das Stadtmodell – wie schon in Beijing beeindruckend groß -, das Shanghai im Jahr 2010 darstellen soll, zeigt eher eine Wunschvorstellung als die tatsächliche Stadt. Von unserer Schifffahrt gestern wissen wir, dass stinkende Hafenanlagen rumstehen, wo im Stadtmodell schicke Grünanlagen zu sehen sind. „Bis 2010 sollen 40% der Stadtfläche aus Grünanlagen bestehen“, verspricht die Ausstellung. Beruhigend, dass auch in China Ziele verfehlt werden können. Moderne Hochhäuser sieht man im Stadtmodell überall – unter anderem dort, wo sich heute noch der ursprüngliche, schöne, aber natürlich heruntergekommene Teil der Altstadt befindet, den wir gestern durchstreift haben. Sollte die Abrissbirne diesen Plan umsetzen, so wird Shanghai weiter an Ursprünglichkeit und Flair verlieren. Der nördliche Teil der Altstadt, der erhalten bleiben soll, ist ein überlaufenes Disneyland, bei dessen Sanierung leider jegliches Flair abhandengekommen ist.













Shanghai ist sicher eine faszinierende, spannende Stadt. Mit den Veränderungen, die die Metropole in den letzten 20 Jahren durchlaufen hat, kann weltweit vermutlich nur Dubai mithalten. Die Skyline in Pudong, die an der Wende zum 21. Jahrhundert entstanden ist, ist vielleicht noch beeindruckender als die am gegenüberliegenden Flussufer aufgereihten Häuser des Bund, die an der Wende zum 20. Jahrhundert entstanden sind. Shanghai befindet sich historisch betrachtet gerade inmitten seiner zweiten großen Blütezeit. Die erste Blütezeit war geprägt von Architektur und Kultur der Kolonialherren aus Großbritannien und Frankreich, die zweite ist geprägt von Architektur und Kultur des US-amerikanischen Kapitalismus. Die zwei prägenden Epochen führen dazu, dass Shanghai heute eine bedeutende Weltstadt ist, die manchmal sehr europäisch wirkt und manchmal sehr amerikanisch, aber nur selten wirklich chinesisch. Das ist es wahrscheinlich, was uns hier so fehlt. Natürlich gehen wir gerne in der leckeren deutschen Bäckerei frühstücken und hören dabei Reinhard May und Annett Louisan, natürlich greifen wir auch mal auf amerikanischen Fastfood zurück und lassen uns von der Skyline von Pudong begeistern. Aber wo ist bitteschön das Flair der Beijinger Hutongs geblieben? Wo die zahlreichen Garküchen am Straßenrand? Wo die alten Männer, die auf dem Gehsteig Karten spielen? Der Verkehr ist hier anstrengender und gefährlicher als in Beijing, die Menschen irgendwie reservierter. Der Vergleich mag noch so hinken, weil wir in Beijing nur tolles Wetter und in Shanghai bisher nur Mistwetter hatten, aber: Beijing hat uns beiden deutlich besser gefallen. Shanghai ist die Stadt für den Kopf, Beijing die Stadt für den Bauch, Shanghai wird von den Kräften des yang bestimmt, Beijing von den Kräften des yin.


Montag, 25.10., 23:53h (MEZ+6)

Die Welt zu Gast bei Feinden? Nein, kleine Scherz, das Motto der Expo in Shanghai lautet natürlich „better city, better life“, überraschend viele Länderpavillons haben sich diesem Motto verschrieben. In Österreich überall regenerative Energien, in Deutschland Niedrigenergiehäuser und Carsharing, in Dänemark eine hervorragende Radwegeinfrastruktur. Läuft man als Asiate durch die europäischen Pavillons, so stellt man sich Europa vermutlich als ein grünes Paradies vor, in dem sich alles nur um Umweltschutz dreht. Dass gerade wir Deutschen die Chinesen beim CO2-Ausstoß pro Kopf noch immer um ein vielfaches überbieten, erfährt man auf der Expo natürlich nicht. Dass es vor allem die deutschen Autos sind, die zur Luftverschmutzung in chinesischen Städten beitragen, auch nicht. „Greenwashing“ nennt man diese Art des Marketings (oder sollte ich besser gleich „Propaganda“ schreiben?).
Sehr gut gefallen hat mir, dass auf der Expo die Ökologie auch praktisch stattfindet. Dass die Chinesen recht glaubwürdig über Umwelt- und Klimaschutz schreiben können, durften wir in den Planning Exhibition Halls in Beijing und Shanghai schon erleben. Dass sie auch handeln können, erkennt man an den Mülltrennungssystemen und den Elektrofahrzeugen auf dem Expo-Gelände. Die Elektrobusse werden während des Stopps an den einzelnen Stationen über kleine Oberleitungsabschnitte aufgeladen und fahren dann im Akkubetrieb weiter. Warum gibt es das im ach so ökologischen Deutschland nicht, wo derzeit die Solarförderung gekürzt wird, Autos auf Autobahnen aber immer noch so schnell fahren dürfen wie sie wollen?
Die Organisation der Expo ist keineswegs perfekt – viele „volunteers“ sprechen kein Wort Englisch, der angebliche Shuttlebus funktioniert nicht, im regulären Bus werden die Stationen ausschließlich in chinesischen Schriftzeichen angezeigt, man wird zum Eingangstor gelotst und erfährt erst dort, dass man die Tickets an einem anderen Eingangstor kaufen muss, an den Pavillons ist nirgendwo beschildert, wo denn überhaupt der Eingang ist und welche Schlange zu welchem Pavillon gehört – aber man merkt, wie wichtig den Chinesen – nur zwei Jahre nach den Olympischen Spielen in Beijing – dieses Event ist, um der Welt zu zeigen, was für ein tolles, offenes Land dieses China doch ist. Das scheint ihnen gelungen zu sein. Die zahlreichen Sicherheitskräfte haben alle freundlich gelächelt, das sinnvoll strukturierte Gelände bietet unzählige Besichtigungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten. Ein Tag auf der Expo macht schlicht und ergreifend Spaß.
Schade war, dass die meisten Länder die Hostessen in den Pavillons nicht von zu Hause mitgebracht, sondern kostensparend in China angeheuert werden. Am lächerlichsten wirken dabei die in Tricolore-Latzhosen gepackten Chinesen im französischen Pavillon. Von den Pavillons, die wir besucht haben, haben nur Kanada, Dänemark, die Niederlande und Deutschland Personal von daheim mitgebracht. Perfektionistischerweise natürlich nur junge, hübsche Mädchen, die auch chinesisch sprechen. Während es unter den Besuchern überraschend wenige Langnasen gab, konnten wir uns also wenigstens mit den Mitarbeitern in den Pavillons mal wieder Englisch oder auch Deutsch unterhalten und haben auf diese Weise auch ein paar Hintergründe zur Expo erfahren – die Probetage, wo statt der 100.000 verpflichteten Probebesucher dann doch 200.000 kamen; die Probleme mit den kompostierbaren Trigema-T-Shirts, die alle Mitarbeiter im deutschen Pavillon tragen müssen; die im Vergleich zur Expo in Hannover fehlenden internationalen Partys mit Mitarbeitern aus anderen Länderpavillons; die Diensteinteilung der einzelnen Teams im kanadischen Pavillon.
Viel Interessantes haben wir auch von Yung-Feng [Name von der Redaktion geändert] erfahren, einer zwischen 21 und 28 Jahre alten hübschen Chinesin, deren Vater für die chinesische Regierung gearbeitet hat und deren Lieblingshobbys relaxen und shoppen sind. Nach zahlreichen Auslandsaufenthalten (ihre Schulzeit hat sie z.B. in England verbracht) nervt es sie total, dass sie in China nicht auf facebook zugreifen kann und Chinesen nie wirklich eine Meinung äußern (dürfen) und dass sie andauernd angeglotzt wird, nur weil sie anders gekleidet ist. Den viel zu einheitlichen Kleidungsstil der Chinesen verachtet sie ebenso wie deren Angepasstheit. Interessant, das aus dem Mund einer jungen Chinesin zu hören, die sich eine solche Meinung(sfreiheit) (und noch viele andere Dinge) offensichtlich leisten kann.
Zurück vom chinesischen System, über das ich in den letzten Urlaubstagen überraschend häufig schreibe, zur Expo: da haben wir uns u.a. noch ein paar Urban Best Practices angeschaut. Barcelona zeigt, wie man mit neuen Straßenbahnen die Lebensqualität in der Stadt verbessern kann, Odense versucht dasselbe mit Fahrrädern, Basel mit Wasser. Viele Städte, die der Meinung sind, etwas zum Thema „better city, better life“ beitragen zu können, nutzen die Chance einer guten Selbstdarstellung auf der Expo, von Hamburg bis Freiburg, von Madrid bis London. Schade, dass Berlin so etwas anscheinend nicht nötig hat.
Auch die chinesische Staatsbahn hat sich einen beeindruckend großen Pavillon auf der Expo gegönnt. In einem aufwändigen 3D-Film wird die rasante Entwicklung des Hochgeschwindigkeitsverkehrs in China verherrlicht, wie gewohnt fungiert in der gesamten Ausstellung der ICE 3 als beliebtester Werbeträger. Eine Dampflok, eine Stellwerkssimulation, Bahnhofs- und Streckenmodelle und vieles mehr ließen mein Pufferküsserherz höher schlagen. Der 3D-Film endet übrigens mit dem meiner Meinung nach durchaus systemkritischen Satz „tomorrow will be better“. Den Eindruck kann man auf dieser Expo tatsächlich gewinnen.


















Dienstag, 26.10., 22:27h (MEZ+6)

Den letzten Tag in Shanghai habe ich zu nicht unwesentlichen Teilen in der U-Bahn verbracht. Vom Viadukt der Linie 3 aus konnte ich mir einen Eindruck verschaffen von der unglaublichen Dichte und Höhe der Wohnhochhäuser am Rand der Shanghaier Innenstadt. Das schlägt sogar Beijing um Längen, nicht umsonst hat Shanghai auf einer nur halb so großen Stadtfläche deutlich mehr Einwohner als Beijing. Von ein paar anderen Zwischenstopps konnte ich u. a. einen Blick von hinten auf die Skyline von Pudong werfen.
Meine U-Bahn-Rundfahrt war deutlich angenehmer als das, was Dirk vorhin erlebt hat. Die bis dahin untätige Polizei hat ihn im Gegensatz zu all den glotzenden Chinesen schließlich aus seiner misslichen Lage befreit. Aber das soll er am besten selber erzählen.



Mittwoch, 27.10., 0:10h (MEZ+6)

Wir fliegen! Zum ersten Mal in diesem Urlaub, und das, obwohl wir so weit von zu Hause weg sind. Schon komisch. Der Shanghaier Regen liegt jetzt 8.991 Meter unter und ein paar Kilometer hinter uns. Das Emirates-Unterhaltungsprogramm ist beeindruckend. Den Start konnten wir gerade gleichzeitig über Frontkamera, Bodenkamera und aus dem Fenster beobachten und dazu noch die passende Musik hören. Um alle Filme, Serien und CDs auszuprobieren müsste man einige Male um die Erde fliegen…
Ganz im Gegensatz zum Emirates-Flug ist der Flughafen Pudong unglaublich langweilig und einer Weltmetropole wie Shanghai ebenso wenig angemessen wie die bereits erwähnte lahme U-Bahn. Wir hatten sowohl Zeit als auch (chinesisches) Geld zu verplempern, beides ist in den langweiligen Terminalhallen mit den kaum vorhandenen Einkaufsmöglichkeiten schwer umzusetzen. Wir dachten sogar schon daran, „finde den Fehler“ zu spielen, indem man ständig über den langweiligen Verbindungsweg zwischen den beiden langweiligen Terminals rennt und Abweichungen in der Architektur der Terminals feststellt.
Alles andere als langweilig war die Fahrt zum Flughafen. Wenn man nämlich erst einmal den Umsteigebahnhof am Stadtrand erreicht hat, kann man die letzten 30 Kilometer in sieben Minuten mit dem Transrapid zurücklegen. Die milliardenteure Transrapidstrecke ist natürlich völlig unnötig, weil man auch gleich mit der U-Bahn bis zum Flughafen durchfahren kann und häuft angeblich jährlich 100 Mio. € Verluste an. Die Materialien im Transrapid sehen überraschend billig aus, wie ein zweitklassiges ICE-Plagiat. Außerdem ist der Transrapid überraschend laut und schwebt überraschend unruhig, eine Fahrt mit dem ICE auf den neuen Hochgeschwindigkeitstrassen in China ist wider Erwarten deutlich angenehmer. Das haben die Chinesen wohl auch gemerkt und deshalb die hochtrabenden Transrapid-Ausbaupläne vermutlich heim, still und leise begraben. Ohne Ausbau zu einem einst geplanten Transrapid-Netz macht der kleine Flughafenzubringer natürlich keinen Sinn.
Aber egal, es ist schon ein Hammererlebnis, in kürzester Zeit auf 430 km/h zu beschleunigen und unglaublich schnell an der Landschaft vorbeizurauschen. Kurzes, aber beeindruckendes Highlight ist es, wenn bei Tempo 430 der ebenso schnelle Gegenzug vorbeifliegt. Einfach nur geil.




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