Montag, 25. April 2011

Berlin - Moskau

Freitag, 01.10., 15:07h (MEZ)

Der Puls ist schon etwas höher als normal. Falls man das so nennen kann, riecht es hier russisch. Die Angestellten sprechen nur russisch, die Hinweistafeln sind kyrillisch. Schon in Russland? Nein, Berlin, Bahnhof Zoo, im Nachtzug nach Moskau. Schlafwagenabteil mit ausklappbarem Waschbecken. Von der russischen Hauptstadt trennen uns noch 38 Stunden, zwei Zeitzonen und drei Landesgrenzen. Los geht’s.







Freitag, 01.01., 17:20h (MEZ)

Wie schaffe ich einen Tagebuch-Eintrag ohne die zahlreichen „Oder“-Wortspiele, mit denen wir uns gerade die Wartezeit in Frankfurt überbrückt haben? Schwierig. Ich könnte schreiben, dass die Oder gerade ganz schön viel Hochwasser hat. Kein Wunder nach dem Wetter in der vergangenen Woche. Oder?






Freitag, 01.01., 17:58h (MEZ)

Jedes Jahr werden 25 Hektar Fläche für Einmalstäbchen gerodet, sagt der Reiseführer. Mit dieser einfachen Zahl versuchen wir gerade, uns die Dimension unserer beiden Urlaubsländer klar zu machen, die Größe Russlands und die Einwohnerzahl Chinas: 25 Hektar sind etwa 25 große Fußballfelder. 25 Fußballfelder komplett voll mit Bäumen, das ist schon eine Menge Holz – im wahrsten Sinne des Wortes. Aus jedem einzelnen Baum lassen sich verdammt viele kleine Holzstäbchen machen. Also müssen 1,3 Mrd. Menschen, die mit Einmalstäbchen essen, verdammt viel sein. Krass, gibt es viele Chinesen.
Russland ist etwa 17 Mio. km² groß und damit fast doppelt so groß wie Europa (natürlich ist der Vergleich Quatsch, weil fast ein Drittel Russlands in Europa liegt…) oder 6.650 Mal so groß wie das Saarland (mit dem man ja Flächenangaben sonst immer vergleicht). Würde ganz Russland voll stehen mit Bäumen, aus denen die 1,3 Mrd. Chinesen Einmalstäbchen herstellen würden, dann würde der Holzvorrat für 68 Millionen Jahre reichen. Krass, ist Russland groß.


Freitag, 01.01., 19:00h (MEZ)

Ich bin begeistert von Dirks Kreativität. Er sitzt gerade neben mir und zeichnet alle Lebensmittel, die wir vor der Abfahrt gekauft haben, in seinen Notizblock. Alles, was wir essen und trinken, streicht er durch, damit wir immer wissen, was noch da ist. Coole Idee. Wie er in diesem wackelnden Zug so schön zeichnen und – mit kyrillischen Buchstaben! – schreiben kann ist mir sowieso ein Rätsel. Ich werde ihn weiter von der Seite beobachten und bewundern.





Freitag, 01.10., 21:38h (MEZ)

Die Betten sind ausgeklappt, das Nachtlicht angeknipst. Der erste Tag nähert sich dem Ende, der Zug nähert sich Warschau. Irgendwann heute Nacht werden uns weißrussische Zöllner aus dem Schlaf reißen und uns Formulare in die Hand und Maschinengewehre unter die Nase drücken. Wir haben aber nichts zu befürchten, denn wir haben uns hartnäckig geweigert, für den Schlafwagenschaffner Schuhe zu schmuggeln. Nach zwei Wörterbüchern und der Tüte voller neuer Schuhe war klar, was mit „darf ich Sie bitten, über die Grenz zwei oder drei Schuh“ gemeint war. Je näher wir Russland kommen, desto skurriler wird alles. Trotz einiger schlechter Erfahrungen bei vergangenen Besuchen freue ich mich auf ein Wiedersehen mit dem größten Land der Erde.




Samstag, 02.10., 9:32h (MEZ+1)

Gelbe und rote Bäume in Weißrussland: von wegen, es gäbe in kontinentalen Klimaten keine Übergangsjahreszeiten. Wenn das da draußen kein Herbst ist, was dann?!
Die Grenzzeremonien zwischen Polen und Weißrussland heute Nacht haben etwa drei Stunden gedauert, spektakulärer Höhepunkt war natürlich die Umspurungshalle: angeblich, damit es nicht von Feinden mit der Eisenbahn überrollt werden kann, hat sich das russische Zarenreich seinerzeit für eine breitere Spurweite entschieden, als die in Westeuropa übliche „Normalspur“ von 1.435 mm. Das führt bis heute zu aufwändigen Umspurungsaktionen im Personen- wie im Güterverkehr. Unser Zug wurde – aufgeteilt auf mehrere nebeneinander stehende Zugteile – in eine Art große Lagerhalle gebracht, dort wurde dann Waggon für Waggon angehoben, die alten Drehgestelle gelöst und herausgerollt und neue, breitere Drehgestelle wurden in die Halle gerollt und in den Waggons verankert. Klingt interessant? Ist es auch.


Samstag, 02.10., 10:43h (MEZ+1)

Subsistenzbauern neben Großbetrieb mit Riesenäckern; Uralt-Lkw neben neuem Audi; kleine Holzhäuser mit rauchendem Schornstein neben markanten Industriebetrieben. Weißrussland scheint ein Land der Gegensätze zu sein.


Samstag, 02.10., 13:15h (MEZ+1)

Minsk war (nach Berlin und Warschau) schon die dritte Hauptstadt auf unserer Reise. Hat natürlich nur – während Ein- und Ausfahrt und 20 Minuten am Hauptbahnhof – für einen ersten Eindruck gereicht. Von den Gebäuden her eine kleine Schwester Moskaus, überraschend moderner (bzw. modernisierter) Fuhrpark des öffentlichen Nahverkehrs, sehr viele und große Industriebrachen, überraschend hässliche Neubauten („wahrscheinlich kommt Architektur hier auch zehn Jahre später an“), keine strukturierte Stadtentwicklung erkennbar. Aber alles in allem wirkt die Stadt durchaus sympathisch und einladend. Der Unterschied zwischen dem großen Minsk und dem ländlichen Weißrussland, durch das wir jetzt wieder fahren, ist auf jeden Fall beeindruckend. Neubauten auf dem Land sind in der Regel nicht fertiggestellte Bauruinen, während ein Großteil der Landbevölkerung scheinbar in alten Holzhäusern wohnt. Wir haben noch nicht herausgefunden, warum die Einheimischen so gerne mit großen Plastiktüten durch den Wald laufen. Herausgefunden haben wir indes, dass die herbstlich-bunten Mischwälder hier in Weißrussland viel schöner sind als die Kiefern-Monotonie gestern Nachmittag in Brandenburg.





Samstag, 02.10., 20:08h (MEZ+2)

Ganz offensichtlich unterscheiden sich Russland und Weißrussland nur minimal, uns ist nämlich gar nicht aufgefallen, dass wir die Grenze passiert haben. Bei der Einfahrt in den Bahnhof von Smolensk haben wir es dann gemerkt, aber auch nur, weil wir aus der Landkarte wussten, dass Smolensk in Russland liegt. Die Dörfer, Städte und Wälder sehen sich in beiden Ländern sehr ähnlich, die Bahnhofsgebäude – allesamt gepflegt und sauber! – unterscheiden sich in der Art des Türkistones, sehen aber sonst völlig identisch aus. Im letzten Bahnhof in Weißrussland – Orscha – haben wir in der Bahnhofshalle in Form eines großen Wandgemäldes erstmals Bekanntschaft mit Lenin gemacht. Er wird uns auf unserer weiteren Reise noch häufiger begegnen…





Mittlerweile ist es wieder dunkel, die Birkenwälder sind einem Meer von Hochhäusern gewichen. Das erste Einkaufszentrum mit Glitzerfassade ist gerade am Fenster vorbeigezogen, jetzt sind wieder Wohntürme vor dem Fenster. Schade, dass wir bald aussteigen müssen. War eine sehr komfortable, angenehme Fahrt von Berlin hierher. Jetzt heißt es Abschied nehmen von unserem schönen Abteil mit dem ausklappbaren Waschbecken, von den humorvollen Zugbegleitern Alexander und Anja, vom beständigen Rumpeln. Das nächste Abenteuer wartet bereits. Wir sind in Moskau!

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